1. Augustrede 1998 in GreifenseeLesedauer ca. 13 Minuten

Am 1. August 1998 durfte ich auf Einladung des Gemeindepräsidenten von Greifensee, Herrn Roesler, die dortige 1. August-Ansprache halten.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Liebe Gäste,

Es ist mir eine Ehre, zu Ihnen sprechen zu dürfen. Dass Sie mit mir auf dem Land einen Stadtpolitiker eingeladen haben, und dazu noch gleich den jüngsten Gemeinderat der Stadt Zürich, zeugt von Offenheit und Mut.

Ich möchte dem Gemeindepräsidenten, Herrn Roesler, für diese Einladung ganz herzlich danken.

 

Ich werde zu Ihnen zu einem Thema sprechen, das für viele nichts mit Feier und Fest, wenig mit der Nation und höchstens etwas mit den bald beendeten Sommerferien zu tun hat – Ich werde zu Ihnen von der Arbeit sprechen. Von der Arbeit, von unserer Arbeitsgesellschaft, von ihren Problemen. Aber auch davon, wie wir, alle zusammen, einen Weg finden können, der uns eine gemeinsame Zukunft verspricht. Eine würdige und eine spannende Zukunft.

Eine Zukunft, die uns aber auch vor mindestens so grosse Herausforderungen stellt, wie jener Anfang der heutigen modernen Schweiz vor 150 Jahren, 1848, den wir heute als einen unserer vielen Geburtstage feiern.

Arbeit: Mühsal, Anstrengung, Chrampfe, Maloche. Negative Assoziationen sind mit dem Begriff verbunden.

Schon die Bibel beschreibt die Arbeit als Strafe nach der Vertreibung aus dem Paradies: „im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ spricht Gott zu den ersten Menschen.

Die alten Griechen liessen Sklaven und Frauen für sich arbeiten, nur wer als Mann nicht arbeiten musste, galt als freier Mann, konnte an der sogenannten Demokratie teilhaben.

Und wenn wir in die Geschichte der industriellen Revolution zurückblicken, können selbst jene Schweizer, welche heute einen befriedigenden Job haben, die negativen Assoziationen verstehen, welche der Begriff „Arbeit“ in uns weckt. Vor anderthalb Jahrhunderten, als 1848 die moderne Schweiz aus der Taufe gehoben wurde, verbrachte ein durchschnittlicher Mensch noch gegen 70% seiner wachen Lebenszeit mit Arbeiten. Oft abtötend und anstrengend zugleich, in dunklen Fabrikhallen, unter misslichen Bedingungen, und praktisch ohne soziale Absicherung.

Anfangs dieses Jahrhunderts ist dieser Anteil auf deutlich unter der Hälfte der wachen Lebenszeit gefallen (40%). Heute verbringt der Mensch statistisch im Schnitt noch 15% seiner wachen Lebenszeit mit Erwerbsarbeit.

Als fortschreitende „Befreiung von der Arbeit“ könnte man dies auf den ersten Blick bezeichnen. Das Aussterben harter Fabrik- und monotoner Fliessbandarbeit. Ein Sieg der Technik.

Doch viele unter Ihnen werden jetzt den Kopf schütteln. Sie werden verweisen auf die Schweizer Arbeitslosenzahlen, die sich zwischen 1991 und 1997 von unter 70’000 auf über 160’000 mehr als verdoppelt haben. Ein bitterer Sieg, fürwahr.

Die Arbeit, ungeliebt und mühsam, hat nämlich auch eine andere Seite. Als Erwerbsarbeit garantiert sie das Einkommen, und damit überhaupt die Möglichkeit, in unserer vom Geld bestimmten Gesellschaft selbstbestimmt leben zu können. Erwerbsarbeit sichert nicht nur den Lebensunterhalt, sondern sie stiftet vielen Menschen auch einen Lebenssinn und verschafft ihnen eine gesellschaftliche Position.

Wie sehr wir uns gegenseitig über unsere Erwerbsarbeit definieren, sehen wir beispielhaft in den Medien. „33jähriger Schreiner gewann im Lotto“ heisst es etwa da, oder „50jähriger Börsenmakler in die Bahamas verschwunden“. Alter und Beruf – mit diesen beiden Eigenschaften wird in der Öffentlichkeit ein Schweizer definiert.

Die Arbeit hat also zwei Gesichter. Ein negatives und ein positives. Und darum weckt auch das Schlagwort vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ positive und negative Assoziationen.

Was bedeutet aber dieses Schlagwort vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“? Warum bin ich der Meinung, dass damit treffend die Herausforderung der kommenden Jahre und Jahrzehnte beschrieben wird?

Eigentlich fasst die Rede vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ eine Vielzahl einzelner Ereignisse und Entwicklungen zusammen, welche allesamt den bisherigen Lauf der Dinge, zumindest wie er 1950-1990 gewohnt war, durchbrechen. Und dies mit einer Entschiedenheit und Deutlichkeit, die eine Rückkehr zum Gewohnten ganz deutlich in den Bereich der Wunschträume verbannt.

Welche Entwicklungen meine ich? Ich möchte nur vier wesentliche Bereiche ansprechen:

  • der Anstieg der Arbeitslosigkeit
  • Gesellschaftlicher Wandel, z.B. im Verhältnis zwischen Männern und Frauen und dem Verhältnis der Frauen zur Lohnarbeit
  • die technische Entwicklung, die immer neue Arbeit wegrationalisiert
  • Globalisierungstrends, die internationalen Druck auf schweizer Arbeitsplätze machen

 

Im Detail:

(A) Da ist zuerst ganz sicher der bereits erwähnte Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Schweiz wurde davon scheinbar ziemlich unerwartet getroffen, und für das, was wie eine Naturkatastrophe über die Nation hereingebrochen ist, fehlten lange die Worte und auch die politischen Rezepte. Unterdessen ist klargeworden, dass auch ein wiederaufkeimendes Wachstum die Problematik bloss lindern, nicht aber dauerhaft und endgültig lösen kann. Im Gegenteil: auch die Schweiz muss sich damit auseinandersetzen, dass eine strukturelle Arbeitslosigkeit von mehreren Prozent, unabhängig von der Wirtschaftslage, bestehen bleiben wird.

(B) Da ist zum zweiten die Tatsache, dass die Grundlagen, welche einmal für die Ausgestaltung unserer sozialen Sicherungssysteme galten, heute nicht mehr so gegeben sind.

  • Die traditionelle lebenslange zusammenhaltende Kernfamilie kann immer weniger als Normalfall gelten.
  • Die Frauen versuchen, ganz zu Recht, ihren eigenen Platz in der Welt der Erwerbsarbeit einzunehmen und zu behaupten – obwohl sie im Schnitt immer noch ein Viertel weniger verdienen als Männer. Um gewisse Arbeitsplätze besteht also eine grössere Konkurrenz als früher, was sich auch auf das Lohnniveau auswirkt.
  • Die AusländerInnen lassen sich nicht mehr so einfach als Saisonniers zum Ausgleich der wechselnden Nachfrage einsetzen. Umgekehrt ist die Zeit vorbei, in der nur sie als Arbeitskräfte auf Abruf funktionierten. Immer mehr Menschen, v.a. auch Frauen, arbeiten heute in sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen, die kaum das Geld zum Überleben sichern, oder in sozial schlechter abgesicherten Teilzeitanstellungen.

(C) Drittens läuft die technische und die wirtschaftliche Entwicklung immer mehr auf die Weg-Rationalisierung der menschlichen Arbeit zu. Selbst wenn neue Branchen, wie seit der Liberalisierung die alternativen Telefonfirmen, heute einen riesigen Bedarf an Fachkräften haben und den entsprechenden Markt mehr als austrocknen, wird dies nur eine kurzfristige Bewegung sein. Im Gegenzug dazu führt die verschärfte Konkurrenz dazu, dass neue arbeitssparende Technologien mit noch mehr Entschiedenheit entwickelt und zum Einsatz gebracht werden.

(D) Viertens wird durch die Globalisierungstrends mindestens auf bestimmte Branchen ein zusätzlicher Druck ausgeübt, der dazu führt, dass Arbeitsplätze aus der Schweiz abwandern.

 

Die Krise am Ende der Arbeitsgesellschaft… eine Tatsache. Aber welche Probleme werden damit verbunden?

Neben den sozialen und finanziellen Problemen, so meine ich, sind es vor allem auch die gesellschaftlichen Probleme, welche uns alle beschäftigem müssen.

  • Zu den sozialen Problemen: die Finanzierung der Arbeitslosen, der Ausgesteuerten muss gesichert werden. Immer weniger „Arbeitsbesitzende“ müssen für immer mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger finanziell auskommen.
    Diese Situation wird durch den Geburtenrückgang unabhängig von der Wirtschaftsentwicklung noch verschärft: die Zahl der älteren Menschen, welche von der Umlagefinanzierung der AHV profitiert, nimmt im Verhältnis mit den Jungen, welche diese Abgaben leisten müssen, immer stärker zu.Neben diesen sozialen und letztlich finanziellen Problemen betrachte ich aber die gesellschaftlichen Probleme als mindestens so brennend und wichtig:
  • Gesellschaftliche Probleme: Die Integration der Arbeitslosen in die Gesellschaft muss geleistet werden. Weil eben Erwerbsarbeit, wie bereits erwähnt, auch die gesellschaftliche Position eines Menschen wesentlich mitbestimmt, ist dies eine sehr schwierige und wichtige Aufgabe. Ich werde später auf diesen zentralen Bereich zurückkommen.

Zuerst möchte ich aber noch ein anderes Thema ansprechen, das in der gegenwärtigen Diskussion selten erwähnt wird. Gleichzeitig mit dem Ende der Arbeitsgesellschaft wird nämlich auch eine ganze gesellschaftliche Konstellation in Frage gestellt, die wir spontan nicht direkt mit dem Begriff „Arbeitsgesellschaft“ in Verbindung bringen, welche aber als Ableitung oder Gegenpol genauso damit verbunden ist.

Die „Freizeitgesellschaft“.

Viele Politikerinnen und Politiker befürchten, dass die mit der wachsenden Zahl an Arbeitslosen soziale Unruhen entstehen, und sehen den weiteren Ausbau der „Freizeitgesellschaft“ als des – meist zu bezahlenden – Freizeitbetriebs als Reaktion auf diese Entwicklung.

Freizeitgesellschaft als Bescäftigungstherapie für Menschen, die sonst mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen? Freizeitgesellschaft als Mittel zur weiteren Konsumankurbelung, weil sonst unsere Wirtschaft das scheinbar notwendige Wachstum nicht erreichen kann?

Abgesehen davon, dass ich diese Entwicklung, die immer noch auf Wirtschaftswachstum zur Bewältigung unserer Probleme setzt und deren einzige Sorge die Erschliessung neuer Märkte und die Sicherung der Nachfrage ist, auch aus Umweltschutzgründen verheerend fände, glaube ich nicht daran, dass diese Entwicklung so eintreffen wird. Ganz im Gegenteil.

Meine These ist: Mit dem Ende der Arbeitsgesellschaft ist auch das Ende der Freizeitgesellschaft gekommen.

Denn die Freizeitgesellschaft ist in vielem eine Reaktion auf die Arbeitsgesellschaft:

  • Eine Reaktion auf die immer noch vorhandene Eintönigkeit des Lohnarbeitszwangs. Ein Beruf gibt zwar gesellschaftliche Anerkennung, aber gerade unter der Verschärfung der wirtschaftlichen Lage leiden nicht zuletzt viele Berufstätige persönlich. Das Arbeitsklima wird durch drohenden Arbeitsplatz-abbau mit Kündigungen auch nicht besser, und die Forderung nach immer gesteigerter Effizienz kann die Freude am Beruf abtöten.
  • Die Freizeitgesellschaft ist aber auch eine Reaktion auf unser heute an äusseren Risiken und Abwechs-lungen armes Leben.
  • Die Freizeitgesellschaft, der gekaufte Kitzel von Spannung und Unterhaltung, ist auch ein Resultat unserer Gewöhnung an die Mechanismen der Konsumgesellschaft: das Motto „alles ist käuflich…“ hat ja auch als Spiegel dazu die Auffassung „etwas, das keinen Preis hat, ist auch nichts wert…“.

* * *

 

Nach dieser Viertelstunde mit Problemen, Erklärungen, Analysen werden Sie sich, meine verehrten Damen und Herren, vielleicht langsam zu fragen beginnen.

Hat der junge Politiker heute uns mehr zu bieten, als eine lange Rede über die Arbeit an unserem National-feiertag?

Ja, ich habe einen Vorschlag. Ich denke, dass heute weder der Aus- noch der Abbau der sozialen Sicherungssysteme opportun und politisch durchsetzbar ist. Aber ich glaube, dass ein radikaler Umbau der sozialen Sicherungssysteme notwendig und möglich ist. Dabei gehe ich von zwei Grundprinzipien aus:

  1. Jede Schweizerin, jeder Schweizer hat das Recht auf eine würdige Existenz.
  2. Unsere Gesellschaft ist als ganzes reich genug, um dies zu gewährleisten.

Die Lösung, die ich ihnen präsentiere, ist meines Erachtens die richtige Antwort der Gesellschaft auf das „Ende der Arbeitsgesellschaft“. Ich möchte Ihnen das Garantierte Existenzminimum vorstellen.

Das Garantierte Existenzminimum ist ein Ersatz für die bisherigen sozialen Sicherungssysteme. Es soll gleich viel Kosten wie unsere Sozialwerke, die AHV und die Arbeitslosenversicherung zusammen.

Das Garantierte Existenzminimum würde jeder Schweizerin und jedem Schweizer die materielle Existenz zusichern, ohne dass man sich bei Amtsstellen oder SozialarbeiterInnen darum bemühen müsste. Ein Recht, das allen zusteht.

Wie könnte es realisiert werden? Ein überzeugendes Modell ist die negative Einkommenssteuer. Das heisst, alle SchweizerInnen, deren Einkommen unter einer bestimmten Schwelle liegt, erhalten vom Staat Geld, statt dass sie Steuern zahlen müssen.

Einfach und simpel. Wer weniger arbeiten kann oder will, wird nicht bestraft. Umgekehrt besteht aber weiterhin ein Anreiz zum Arbeiten, weil das Garantierte Existenzminimum alleine sicher kein Leben im Luxus ermöglichen kann!

Ein weiterer Vorteil dieses Systems: das Geld versickert weit weniger den Mühlen der Bürokratie als heute, es kommt zum grössten Teil wirklich den Bürgerinnen und Bürgern zu.

Diese sind aber nicht mehr gezwungen, Arbeit um jeden Preis anzunehmen. Sie haben die Möglichkeit, eine Zeit ohne Erwerbsarbeit ohne psychologischen und rechtlichen Druck zu geniessen, sich weiterzubilden, oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen, die ebenso sinnstiftend und erfüllend sein kann, wie ein Beruf. Auch unsere Gesellschaft als ganzes profitiert, denn wir sind auf solche ehrenamtlichen Tätigkeiten angewiesen, weil wir sie gar nicht entlöhnen könnten.

 

Eine überzeugende Lösung? Für mich schon! Aber ich weiss auch, dass viele unter Ihnen ihr heute mit Skepsis begegnen.

Viele Männer zum Beispiel möchten vielleicht ihren Beruf nicht aufgeben, hätten umgekehrt Mühe, sich an der Erziehungsarbeit ihrer Frauen zu beteiligen, oder regelmässig und selbstverständlich auch einen angemessenen Teil der Hausarbeiten zu übernehmen.

Viele Menschen sind heute schon freiwillig in Vereinen, in Parteien und so weiter ehrenamtlich tätig – und dennoch bleibt ihnen ihr Beruf wichtig.

Und es gibt auch Menschen, die den täglichen Berufsstress als Auszeichnung verstehen, die sie immer neu in ihrer Wichtigkeit bestätigt – ich kenne das, weil ich diese Seite auch in mir habe.

Die Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene, welche das Ende der Arbeitsgesellschaft mit sich bringt, kann also nicht mit finanziellen Lösungen, also im wirtschaflichen und politischen Bereich, allein gelöst werden. Zwar ist eine Entkoppelung von Arbeit und Grundeinkommen ein wesentlicher Schritt hin zur Lösung der finanziellen Probleme. Aber mit einem Garantierten Mindesteinkommen allein, das die herkömmlichen Sozialversicherungen ersetzt, ist erst der einfachere Teil der Aufgabe gelöst. Die Funktion der Vermittlung durch die Arbeit muss von neuen Solidaritätsmechanismen oder vielmehr von einem neuen Verständnis der Lebens- und Schicksalsgemeinschaft abgelöst werden.

Diese Lebens- und Schicksalsgemeinschaft, sie ist nicht nur aus der Vergangenheit, auch der nationalen, der Schweizerischen Vergangenheit begründet. Sie schöpft, das ist mein Traum, ihre Kraft auch aus dem Ideal, der Vision einer gemeinsamen Zukunft.

 

Eine gemeinsame Zukunft, die auch jeden einzelnen Menschen mit seinen Stärken unterstützt. Eine gemeinsame Zukunft, in der sich die Menschen nicht mehr bloss auflehnen, auflehnen müssen gegen die Umstände, bloss reagieren auf Bedrohungen, sondern aktiv, kreativ ihr Leben gestaltet.

In unserem Jahrhundert hat der französische Denker Foucault die Meinung vertreten, dass diese Veränderung eine ganz grundlegende Veränderung des Menschen wäre. Er hat das berühmten Wort vom „Tod des Menschen“ geprägt. Foucault hat sich aufgelehnt gegen eine Wissenschaft vom Menschen, die sich – als Psychoanalyse, Medizin, Geschichte, Soziologie – gegen aussen unter die Fahne des Fortschritts, der Befreiung, in das Zeichen einer besseren Zukunft stellt, die aber als Wissenschaft vom Menschen ebenso sehr seine Möglichkeiten einschränkt. Indem diese Wissenschaft vom Menschen vorgibt, seinem wahren, inneren Ich zum Durchbruch, zur Befreiung zu verhelfen, bestimmt sie gleichzeitig, was denn die Substanz, das Wesentliche des Menschen ist. Der Mensch spannt sich so selbst – und scheinbar freiwillig – in eine Maschinerie der Produktivität ein. In diesem kapitalistischen Produktivitätswettkampf ist auch das Schrille, Exotische, schlicht Ungewohnte erlaubt – wenn es denn eine entsprechende Marktlücke findet, und sich so doch wieder einreiht in den Lauf des Gewohnten.

Was dabei auf der Strecke bleibt in dieser unserer Gesellschaft ist das Kreative, das Unbestimmbare, das Unnützliche. Alles was sich selbst genug ist und sich nicht anderweitig noch begründen muss.

Was ich Ihnen hier kompliziert zusammenzufassen suche, hat der Denker Foucault selbst einmal in einer einfachen Frage zusammengefasst. Sie lautet:

„Warum sollte nicht jeder Mensch aus seinem Leben ein Kunstwerk machen können?“

Ich möchte diese Frage heute, an unserem 150 Nationalfeiertag, leicht angepasst wiederholen:

„Warum sollte nicht jede Gesellschaft aus ihrer Geschichte ein Kunstwerk machen können?“

 

Es ist diese Geschichte der Schweiz, an die ich, als junger, skeptischer, kritischer Mensch, auch heute glaube. Diese Geschichte der Schweiz, die noch nicht geschrieben ist, die noch geschrieben werden muss, nicht nur von Politikerinnen und Politikern, sondern von der ganzen Gesellschaft.

Diese Geschichte der Schweiz, an die ich glaube, und in die ich auch meine Hoffnungen setze, sie muss noch geschrieben werden:

Von Ihnen. Von uns allen gemeinsam.

Ich danke Ihnen.

 

1. Augustrede 1998 von Balthasar Glättli in Greifensee