Im aktuellen Meinungs-Bund von „Der Sonntag“ plädiere ich für einen Marschhalt bei der ACTA-Unterzeichnung, eine erweiterte Version ist hier unten zu lesen, sei erschien im P.S. Das Fazit: «Wesentliche Fragen sind unklar. Statt ACTA auf Vorrat zu unterzeichnen und den Ratifikationsprozess einzuleiten, sollte der Bundesrat der zuständigen Kommission vorab eine vertiefte Auseinandersetzung mit den vielen offenen Fragen ermöglichen. Die relevanten Verhandlungsprotokolle müssen dabei zwingend offengelegt werden. Denn sie sind zur Klärung der Auslegungsfragen notwendig.»
Weiter Artikel zu ACTA:
- Zusammenstellung der Kritikpunkte: Es geht um mehr als Internet-Freiheit
- Meine Rede an der ACTA-Demo
- Blogbeitrag ACTA Ja oder Nein? Gedanken zu Wissen, Macht und Eigentum
- Alle weiteren Beiträge zu ACTA
ACTA? Marschhalt!
(Artikel im P.S., 23.2.2012) Knapp zwei Wochen haben Zehntausende in vielen europäischen Städten gegen das «Anti-Counterfeiting Trade Agreement» (ACTA) protestiert. Auch in der Schweiz nahmen mehrere Hundert Leute bei sibirischer Kälte an Protestaktionen teil. Piratenfahnen wehten. Schlagworte des Widerstands waren freier Netzzugang, Kampf der Zensur, Stopp der Aushebelung rechtsstaatlicher Prinzipien. Worum ging’s? Der in den letzten Wochen immer lauter werdende Widerstand gegen das «Anti-Fälschung-Abkommen» ACTA liess auch bei mir zuerst viele Fragen offen: Ging es um den Schutz bürgerlicher Freiheitsrechte, die bedroht sind, weil Unterhaltungs-Konzerne das Recht auf profitable Verwertung von Markenrechten und geistigem Eigentum mit ACTA kompromisslos durchsetzen wollen? Oder war das bloss die Revolte einer jungen Generation, die sich an raubkopierte Gratis-Kultur gewöhnt hat? Oder noch simpler: billiger falscher Alarm einiger Verschwörungs-TheoretikerInnen, deren Befürchtungen sich bei Lichte besehen in nichts auflösen?
Die Antwort ist nicht ganz einfach zu geben. Das hat zwei Gründe.
Amnesty: Wage Formulierungen
Erstens ist ACTA selbst undurchsichtig. Viele Formulierungen des Abkommens sind vage gehalten. Amnesty International London hakt genau hier ein und empfiehlt den betroffenen Ländern in einem für die Organisation seltenen Schritt, ACTA nicht zu ratifizieren. Die Abteilungsleiterin für Internationales Recht und politische Strategien, Widney Brown, kritisiert irreführende juristische Begriffe im englischen Originaltext. Statt die Rechtsstaatlichkeit mittels anerkannter Konzepte wie Grundrechte, «fair use» oder «due process» (rechtliches Gehör) zu garantierten, verweist ACTA auf unklare «fundamental principles» und erfindet den Begriff eines «fair process», der im internationalen Recht nirgends definiert ist. Die unbekannten Ghostwriter des Anti-Fälschungs-Abkommen in den Lobby-Etagen von Grosskonzernen haben wohl auch einigen Politiker mit einer gefälschten Juristensprache vorgegaukelt, der Rechtsstaatlichkeit sei genüge getan! Was mit den unklaren Formulierungen tatsächlich gemeint ist, müsste aber künftig im Streitfall unter Beizug der Verhandlungs-Protokolle erst noch geklärt werden. Doch da ist schon der nächste Haken: die entsprechenden Protokolle wurden bis heute nicht veröffentlicht…
Ein Gutachten von Professor Douve Korff und Ian Brown im Auftrag der Grünen Fraktion im Europaparlament bestreitet gar, dass ACTA mit der EMRK kompatibel ist und fordert eine Reihe von Präzisierungen und Verbesserungen.
Erneute TRIPS Debatte?
Zweitens wird die Debatte kompliziert, weil das Abkommen nicht nur das Internet, sondern auch den ganz normalen Warenverkehr betrifft. Und hier befürchten Organisationen wie die Erklärung von Bern, die sich für eine gerechtere Globalisierung einsetzt, dass Pharma- und Saatgutkonzerne ACTA missbrauchen. Unter Verweis auf Markenrechten kann die Auslieferung von günstigen Generika-Medikamenten an Entwicklungsländer verhindert und mit Bezug aufs Patentrecht der Handel mit Saatgut verzögert werden. Die Forderung der EvB: Ein neues Abkommen dürfte nur unter Einbezug der Entwicklungsländer verhandelt werden.
Fast schon paradox ist, dass mit der Erklärung von Bern eine langjährige kompetente Kritikerin des TRIPS-Abkommens («Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights») nun explizit fordert, dass Verhandlungen im Rahmen der WTO und eines TRIPS Folgeabkommens stattfinden. Immerhin hatte die EvB jahrelang kritisiert, dass die Stimme der Entwicklungsländer in diesen Gremien zu schwach sei. Erklärbar wird dies erst, wenn man schaut, von wem ACTA verhandelt wurde. Ausser Marokko und Mexiko sind keine Schwellen- oder Entwicklungsländer dabei. Aus einem Ungleichgewicht zu Ungunsten der Entwicklungsländer wurde eine völlige Vernachlässigung der Interessen.
Offene Fragen klären
Der Protest ist also breit abgestützt. Aber er kommt spät. ACTA ist auf der Zielgeraden. Bald soll das Europäische Parlament das Abkommen ratifizieren. Und der Bundesrat will den Vertrag unterzeichnen und dann dem Parlament zur Ratifizierung vorlegen. Doch der Protest zeigt auch Wirkung: Lettland, Polen, Slowakei, Tschechien, Österreich, Bulgarien, die Niederlande, Litauen und Deutschland haben den Ratifikationsprozess vorerst gestoppt.
Ein Marschhalt wäre auch bei uns richtig. Statt ACTA auf Vorrat zu unterzeichnen und den Ratifikationsprozess einzuleiten sollte der Bundesrat der zuständigen Kommission vorab eine vertiefte Auseinandersetzung mit den offenen Fragen ermöglichen. Die Verhandlungsprotokolle müssen dabei zwingend offengelegt werden. Denn sie sind zur Klärung der Auslegungsfragen notwendig. Ich hoffe, dass ACTA ohne diese Transparenz von vorneherein nicht mehrheitsfähig ist!
Urheberrecht 2.0?
Gleichzeitig müssen wir politische Lösungen für die berechtigten Anliegen der Kulturschaffenden finden. Diese drohen nämlich in einer simplen Auseinandersetzung für oder gegen die «Freiheit im Internet» unterzugehen. Eine Abschaffung oder Aushöhlung des Urheberrechts ohne die gleichzeitige Einführung anderer Lösungen schadet nicht nur den grossen Unterhaltungskonzernen mit ihren Milliardengewinnen. Natürlich sind dies die Lieblingsfeinde all jener, die das Urheberrecht ganz grundsätzlich abschaffen wollen – weil sie hier zu zeigen können glauben, dass es gar nicht den wirklichen UrheberInnen nützt, sondern vorab gewinnorientierten Multis.
Aber bedroht sind vorab die Kultur-KMU. All jene ganz normalen Kulturschaffenden, die heute effektiv das Urheberrecht brauchen – auch wenn die meisten davon alleine nicht leben können! Mit ihnen zusammen, und nicht gegen sie, müssen neue Formen der Kulturfinanzierung entwickelt werden, die möglichst einfach umsetzbar sind – und auch Mehrheiten finden. Die Verteidiger der Grundrechte ebenso wie die Kulturschaffenden selbst stehen hier unbestrittenermassen noch vor riesigen Herausforderungen. Und die Piratenpartei – sicher verlässlich im Kampf um die Grundrechte der Internet-User – müsste sich hier meiner Meinung nach noch tüchtig bewegen.
Mehr Infos: http://www.balthasar-glaettli.ch/tag/acta
Balthasar Glättli, Nationalrat Grüne