«Professionalisierung heisst nicht immer Humanisierung»Lesedauer ca. 4 Minuten

E-Mail-Debatte in der NZZ am Sonntag vom 11. Januar 2015: Verkehrte Welt im Kindesschutz: Gerhard Pfister sieht die Laienbehörden nicht als Allheilmittel. Und für Balthasar Glättli hat staatliche Prävention enge Grenzen.

Balthasar Glättli: Lieber Kollege, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb steht im Visier der SVP. Fachliche Kritik an Institutionen muss immer möglich sein – aber dass der tragische Tötungsfall in Flaach nun mit unhaltbaren Stasi-Vergleichen politisch vermarktet wird, finde ich definitiv unhaltbar.

Gerhard Pfister: Ich kenne den Fall nur aus den Medien, auch keineswegs die Hintergründe dieser Tragödie. Der Niveauverlust von Politikeräusserungen, angeheizt von Möglichkeiten der sogenannten sozialen Medien, die Äusserungen vor dem Denken fördern, ist üblich geworden. Zur Sache: Das Kindeswohl muss Zentrum jedes familiären Handelns sein, sei es staatlich oder selbstverantwortlich. Es gibt leider Eltern, die können diese Aufgabe nicht erfüllen. Es gibt auch Eltern, denen der Staat dies nicht zutraut. Ich kenne Fälle, wo es die Behörden an der nötigen Sensibilität und Professionalität fehlen lassen. Aber eine Abschaffung der Kesb verhindert nicht, dass der Staat in gewissen Fällen die Pflicht hat, einzugreifen. Sehen Sie denn Alternativen?

Balthasar Glättli: Im Gegenteil, ich finde es richtig, dass das Parlament – noch vor meiner Wahl – eine Professionalisierung in dieser unheimlich heiklen Angelegenheit beschlossen hat. Wichtig im konkreten Fall ist mir: Die Abläufe gehören untersucht. Und mögliche Fehler korrigiert. Das wird durch niveaulose Hetzereien nicht vereinfacht, sondern erschwert.

Gerhard Pfister: Natürlich. Aber Sie sollten neben der Stilkritik auch die Probleme anerkennen. Die Bürgernähe der Behörden – ohne das jetzt auf den Fall Flaach zu beziehen – nimmt tatsächlich ab. Professionalisierung heisst nicht immer Humanisierung. Behörden haben eine enorme Verantwortung in der Kommunikation. Für manche Menschen ist ein Kontakt mit Behörden eine Belastung, der sie nicht gewachsen sind. Wenn es gar um die eigene Familie geht, fühlt man sich schnell einmal ins Unrecht versetzt und schuldig. Wir Politiker unterschätzen oft, wie die Kommunikation der Behörden bei den Menschen ankommt, die den täglichen Umgang mit Verwaltung und Behörden nicht so gewohnt sind. Nach so einem tragischen Ereignis kann man nicht zur Tagesordnung übergehen.

Balthasar Glättli: Wenn Behörden in den engsten Lebensbereich einer Familie eingreifen, ist dies – ich wiederhole mich – tatsächlich unheimlich heikel. Schwere Fehler gab es dabei in der Vergangenheit. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplacierungen zerstörten die Leben von Zehntausenden Menschen – ein Thema, dem sich die offizielle Schweiz in der Debatte um die Wiedergutmachungsinitiative erneut wird stellen müssen. Diese will, dass Bund und Kantone für eine Wiedergutmachung für das Unrecht sorgen, das Heimkinder, Verdingkinder, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte, Zwangsadoptierte und Fahrende erlitten.
Gerade vor diesem Hintergrund ist es aber bedenklich, wenn nun verlogen das Hohelied von den Laienbehörden gesungen wird. Damit wird insinuiert, Laienbehörden könnten garantieren, dass Betroffene keine so schrecklichen Taten verübten. Die Familientragödie in Bonstetten, als ein Vater seinen Sohn aus Angst vor dem Sorgerechtsentscheid einer Laienbehörde ermordete, ist ein konkretes Gegenbeispiel aus dem Kanton Zürich.
Können wir eine Gemeinsamkeit finden, wenn wir sagen: Zur Professionalisierung des Kindes- und Erwachsenenschutzes gehört auch, dass bei solchen Tragödien oder auch bei anderen Vorwürfen ebenso professionell nach Fehlern gesucht wird? Und wenn die politischen Parteien von links bis rechts danach sich nicht den Schwarzen Peter zuschieben, sondern allenfalls nötige Korrekturen beschliessen – auch wenn sie halt etwas kosten sollten? Denn Menschenleben sind mehr wert als Geld.

Gerhard Pfister: Ich idealisiere die Laienbehörden nicht, sondern fordere Bürgernähe von allen Behörden. Der Wiedergutmachungsinitiative erwächst ja ausgerechnet aus den Reihen der SVP Widerstand. Ich stimme Ihnen zu, dass eine professionelle Fehleranalyse unabdingbar ist. Dennoch macht mir die Tendenz Sorgen, dass unsere Gesellschaft immer mehr dem Staat delegiert, auch Verantwortung für Familiäres, und damit auch eine Bevormundung und Fürsorge generiert, zu immer höheren Kosten. Wer stets nach dem Staat ruft, bekommt ihn auch dann, wenn er es nicht möchte.

Balthasar Glättli: Es wird Sie vielleicht erstaunen: Ich bin der Meinung, dass man nicht jedes Übel mit Prävention bekämpfen sollte. Da bin ich teilweise auch übers Kreuz mit der eigenen Partei. Zur Freiheit der Bürgerinnen und Bürger gehört die Möglichkeit, Fehler zu machen. Zumal dann, wo man nur sich selbst schädigt – zum Beispiel beim Konsum von legalen oder illegalen Drogen. In den seltenen Fällen, wo aber Kindesinteressen wirklich gefährdet scheinen, braucht es professionelle Eingriffe mit Augenmass.

Gerhard Pfister: Ich freue mich, dass Sie der Selbstverantwortung etwas abgewinnen können und dem Verstand den Vorzug geben vor der Parteilinie – ich versuche dies selbst auch gern und häufig. Deshalb kann ich hier auch gut zugeben: Manchmal ist der Staat nötig, wenn Menschen ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Wir leben nicht in einer idealen Welt, die sich nach den eigenen Dogmen ausrichtet.

Quelle: NZZ am Sonntag, 11.1.2015