«VW-Betrug in den USA aufgedeckt»Lesedauer ca. 4 Minuten

Die Trickserei bei Volkswagen ärgert Gerhard Pfister ebenso wie Balthasar Glättli. Sie streiten sich aber, ob dies trotz strengen Regeln geschah – oder wegen ihnen.

Balthasar Glättli: Geschätzter Kollege, die Abgas-Trickserei von VW hat viele schockiert. Aber die Autobauer aus Wolfsburg scheinen da nicht die Einzigen zu sein. Wie die Zeitschrift «Beobachter» in ihrer jüngsten Ausgabe berichtet, haben unabhängige Messungen massive Überschreitungen auch bei anderen Marken gezeigt. Kriminelle Energie also in der ganzen Autobranche?

Gerhard Pfister: Zunächst einmal handelt es sich um ein klares unternehmerisches Versagen der Führungsspitze von VW. Bei diesem Konzern war man in den letzten Monaten offenbar mehr mit Machtkämpfen beschäftigt als mit der Qualitätssicherung. Dass diese Leute jetzt auch noch mit hohen Abfindungen bedacht werden, obwohl sie Arbeitsplätze gefährden oder diese gar schon vernichtet haben, ärgert mich unglaublich. Aber Sie haben recht: Es ist nicht auszuschliessen, dass weitere Automobilhersteller mit unlauteren Methoden die Abgasnormen umgangen haben.

Balthasar Glättli: Die Autoindustrie spricht von Innovation für Kunden und Umwelt offensichtlich nur in der Werbung. In Tat und Wahrheit findet die «Innovation» vor allem beim betrügerischen Programmieren der Systeme statt. Da vergleichbare Fälle schon länger bekannt sind, ist dies tatsächlich ein Managementversagen. Das macht mir Sorgen, vor allem auch für den Klimaschutz. 2011 stiessen die grossen Automarken offenbar bereits einen Viertel mehr CO2 in die Luft als angegeben – nur zehn Jahre früher betrug der Unterschied zwischen Angabe und Wirklichkeit erst 10 Prozent. Was tun?

Gerhard Pfister: Es ist kein Zufall, dass der VW-Betrug in den USA aufgedeckt wurde. Dahinter steht aber nicht primär nur die amerikanische Sorge um die Umwelt, sondern auch ein gutes Stück Wirtschaftskrieg, das heisst: die Bekämpfung von ausländischen Unternehmen. Das Ganze erinnert mich an die Angriffe auf ausländische Banken. Die klage- und prozesswütigen Amerikaner bedienen sich immer dreister dieser Waffe. Das haben wir mit zu bedenken, wenn jetzt VW an den Pranger gestellt wird. Es rächt sich aber auch, dass zu starke Regulierungen dazu verleiten, sie zu umgehen. Man kann Innovation nicht regulatorisch erzwingen. Damit entschuldige ich das Versagen nicht, wohlverstanden. Aber ich plädiere für Regulierung mit der Industrie, der Wirtschaft, nicht gegen sie.

Balthasar Glättli: Ein paradoxer Schlenker in Ihrer Argumentation. Den Betrügern nun auch noch entgegenkommen? Schauen wir doch lieber umgekehrt genauer hin – bei VW, bei BMW, aber auch bei Opel! Der höhere Schadstoffausstoss und der grössere Verbrauch als angegeben sind ja auch ein Betrug am Kunden. Vollends paradox wird es, wenn nun die Autoimporteure in der Schweiz als Reaktion auf die Skandale nicht schärfere Kontrollen unter realen Bedingungen, sondern gelockerte CO2-Ziele fordern: Offenbar stellt der Gewinn auf Kosten der Umwelt und auf Kosten des Portemonnaies der Konsumenten den einzigen Wert dar, der zählt!

Gerhard Pfister: Sie unterstellen mir die Rechtfertigung von Betrug, was ich ausdrücklich verneine. Aber es ist eine Tatsache: Je höher und unrealistischer die Regulierung, desto grösser das Risiko der Umgehung. Je höher die Besteuerung, umso grösser der Anreiz, diese zu vermeiden, und desto geringer die Verpflichtung zur unternehmerischen Selbstverantwortung. Das pauschale An-den-Pranger-Stellen der bösen Autohersteller und der bösen Autoimporteure bringt nichts. Das vom schweizerischen Bundesamt für Strassen erlassene VW-Verkaufsverbot ist eine behördliche Überreaktion. Dass die Kunden letztlich die Kosten tragen, ist bei jeder Regulierung die Folge. Aber bei Autofahrern gibt es keinen Aufschrei der linken Konsumentenschützer.

Balthasar Glättli: Dass die Abgasvorschriften nicht unrealistisch sind, zeigt ja die Tatsache, dass sie mit den betrügerischen Sondereinstellungen durchaus eingehalten werden können – das Gleiche gilt bei der Verbrauchssenkung! Es liegt hier also nicht an der Technik. Und wenn VW unter dem Label «Blue Motion» extra Werbung macht für umweltfreundliche und verbrauchsarme Fahrzeuge, ohne das real zu liefern, dann ist das An-den-Pranger-Stellen die richtige Reaktion. Wer nun die Regulierung kritisiert, vergisst, dass sie einen Grund hat: Mensch und Umwelt zu schützen. Die Kosten des Klimawandels tragen wir alle. Richtige Rahmenbedingungen tragen dazu bei, dass die innovativsten Unternehmen einen Marktvorteil haben – und nicht die rücksichtslosesten.

Gerhard Pfister: Wenn Sie schon von Marktvorteil sprechen, dann lassen Sie den Markt auch seine Vorteile ausspielen! Der reguliert nämlich weit effektiver. Aber gerade der VW-Skandal zeigt, dass der Versuch, ökonomische Gesetze auszuhebeln, mit noch so gut gemeinten Absichten die gegenteiligen Folgen bewirken kann. Das Versagen der VW-Führung wird damit nicht entschuldigt.

Balthasar Glättli: Der Markt reguliert allerdings nur dann richtig, wenn auch die Umwelt ihren Preis hat. Würde das Benzin mehr kosten, verkauften sich die durstigen Züriberg-Panzer auch weniger leicht…

Gerhard Pfister: … die von manchen gekauft werden, die dann an der Urne grün oder grünliberal wählen. Es gibt keine besseren Anreize als ökonomische, auch für die Umwelt. Das wäre wirklich grünliberal.

Quelle: NZZ am Sonntag, 4.10.2015