Brücken statt MauernLesedauer ca. 3 Minuten

Vor fast 157 Jahren kommt ein Schweizer Geschäftsmann an einem Schlachtfeld vorbei. Sardinien-Piemont und Frankreich hatten gegen Österreich gekämpft. Noch immer liegen 38’000 Verwundete und Sterbende auf dem Schlachtfeld, ohne dass ihnen jemand Hilfe leistet. Unser Geschäftsmann organisiert die Hilfe – aus der Umgebung, den Dörfern, spontan, von Zivilistinnen. Er erreicht, dass gefangene Militärärzte freigelassen werden zur Versorgung der Verwundeten. Nach der Losung «Tutti fratelli» pflegt man alle, unbesehen der Herkunft, Österreicher, Italiener, Franzosen.

Das Erlebnis der Schlacht von Solferino prägte den Schweizer Geschäftsmann, den Genfer Henry Dunant – und es führte innert weniger Jahre zur Gründung des Roten Kreuzes und schliesslich 1864 auf Einladung des Schweizer Bundesrates zum internationalen Treffen, an dem die erste Genfer Konvention unterzeichnet wurde.

In einer Situation des konkreten Leidens standen Menschen hin, freiwillig, und halfen. Die folgende Unterstützung dieses Engagements – auch durch die offizielle Schweiz – ist ein Teil dessen, was wir heute unter dem Namen humanitäre Tradition immer wieder beschwören.

Ist es ein Zufall des Schicksals, dass es heute wieder Freiwillige sind, die das menschlichste Gesicht Europas und der Schweiz verkörpern? Die die in Idomeni oder auf Lesbos gestrandeten Flüchtlinge versorgen? Letzten Samstag hörte ich an einer Solidemo auf dem Bundesplatz eindrückliche Zeugnisse. Studierende, Mütter, Väter, die für Tage oder Wochen ihre Familien hier verlassen hatten, um zu helfen. Sie glaubten nicht etwa übermütig, allein die Welt verändern zu können. Sondern sie wussten einfach: Wenn die grösste humanitäre Flüchtlingskatastrophe seit Jahren vor den Toren Europas passiert, können wir nicht einfach wegschauen.

Als Politiker erschreckt mich vor allem dies: dass Staaten nicht das Gleiche tun. Und Ressourcen für konkrete Hilfe einsetzen statt für Abwehr. Selbst wenn Europa alle aus dem Land vertriebenen Syrienflüchtlinge aufnehmen würde – logistisch wäre das bewältigbar: Fünf Millionen sind ein Prozent von über 500 Millionen Einwohnern ganz Europas. Ein Mensch auf hundert. Eine grosse Herausforderung. Sicher. Aber sie wäre zu meistern. Zumindest bis in Syrien endlich wieder Frieden einkehrt.

Stattdessen werden die bereits gestrandeten Flüchtlinge mit Tränengas und Gummischrot an der Weiterreise aus Griechenland gehindert, die Neuankömmlinge nun in einem menschenrechtswidrigen Deal der EU mit dem türkischen Autokraten Erdogan zwischen Griechenland und der Türkei hin und her geschifft. Absurd: Damit eine Syrerin sicher aus der Türkei in die EU reisen kann, muss ein anderer syrischer Flüchtling für teures Geld im Schlauchboot auf der Überfahrt nach Griechenland sein Leben riskieren und sich in Frontex-Schiffen wieder zurückschaffen lassen.

Ich hoffe, die offizielle Schweiz findet doch noch die Grösse, eine Koalition von willigen europäischen Ländern zu zimmern, mit denen gemeinsam wir zumindest den zwölftausend Gestrandeten, den Männern, Frauen, Familien in Idomeni eine Zukunft in Sicherheit und Würde anbieten können.

Und ich hoffe, dass wir endlich der Realität ins Auge zu schauen wagen: Safe Passage, sichere Fluchtroute, ist nicht eine weltfremde Forderung. Sondern im Gegenteil der einzig realistische Weg, den Schleppern das Handwerk zu legen. Mehr Zäune, Tränengas und Militär bringen das Elend in und um Syrien nicht zum Verschwinden. Sie werden nur dazu führen, dass die Fluchtrouten teurer werden und gefährlicher.

Erschienen im PolitBlog des Tages-Anzeigers.