«Migrationsgeschichte(n)»Lesedauer ca. 4 Minuten

Die Geschichtswissenschaften setzen sich intensiv mit dem Thema Migration auseinander. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Migration und Mobilität» der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte stellten sich am 27. April 2017 Historiker/innen als «lebendige Bücher» zur Verfügung. Ich hielt die Begrüssungsrede:

Die Rede anhören:

 

«Lebendige Bücher» werden Ihnen heute in einer «Living Research Library» zur Verfügung stehen. Diese Besonderheit, dass Menschen, ForscherInnen und Forscher, für ein Gespräch, für Austausch zur Verfügung stehen, hat es auch notwendig gemacht, dass Sie sich hierher bewegen mussten. Weil diese lebendigen Gespräche ja nicht einfach wie ein Buch in hundert Kopien vorliegen, hat dies eine kleine, temporäre Arbeitsmigration Ihrerseits vorausgesetzt. Sie sind jetzt alle hier, und haben einen eigenen Rucksack an Erfahrung und Vorgefasstheit mitgebracht, aber sicher auch Hoffnungen, oder zumindest Erwartungen und eine Offenheit, Neuem zu begegnen.

Und das passt ja doch vom Setting her bestens zum Thema «Migrationsgeschichte(n)», welches heute über unsere lebendigen Bücher erschlossen werden soll. Sind doch Migrationsgeschichten immer auch Geschichten vom Zurückgelassenen, vom Mitgenommenen und vom Neuen, von Erwartungen und Hoffnungen.

Liebe Gäste, schön sind Sie da! Mein Dank gilt Peppina Beeli von der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte für die Einladung, den heutigen Abend mit ein paar Anmerkungen einzuleiten.

Der Titel «Migrationsgeschichte(n)» eröffnet gleich mehrere Spannungsfelder, die ich kurz skizzieren möchte:

Da ist zuerst die offensichtliche Spannung, die durch die Klammer um das abschliessende «n» angesprochen wird, nämlich die Spannung zwischen der Geschichte als etwas zumindest im banalen Verständnis Festgeschriebenes, Gesetztes, Allgemeines, Gültiges der Historie – und im Gegensatz dazu die Geschichten in der Mehrzahl, als sich entwickelnde, bewegte und bewegende, je einzelne, vorläufige Geschichten von Menschen. Und wir wissen es, dieser Gegensatz ist ja auch in der Selbstreflexion der Geschichteswissenschaften auf sich, auf ihre Bedeutung und Funktion, aber auch auf die Art ihrer Quellen ein Thema.

Die Frage: ob es denn nur eine Geschichte gebe, führt dazu, sich bewusst zu werden, dass auch die offizielle Geschichte eine Perspektive hat, aus der sie erzählt wird, dass der Blick lenkt, was sichtbar ist oder nicht, die Sprache deutlich macht oder verdrängt, was eben sagbar ist und was nicht. Und in all dem die Historikerin, der Historiker selbst, die mit dem schwierigen Anspruch leben müssen, eigentlich Beiträge an eine allgemeine Geschichte leisten zu wollen, die ihren Ursprung aber in Geschichten haben, und auch selbst immer auch Geschichten bleiben, gelenkt von der eigenen Erfahrung, und recherchiert, gedacht, geschrieben hin auch immer auf die eigenen Vor-Erwartungen.

Genau über diese Fragen werden Sie ja auch reden können mit unseren «Büchern», und in dem Sinne ist unsere lebendige Bücherei eine Art «Oral History» auf der Metaebene, deren Raum aufgespannt wird in der Spannung zwischen Geschichte und Geschichten.

Ein zweites Spannungsfeld, auch offensichtlich, ist jenes zwischen Migration und Geschichte. Und es ist ein doppeltes: Geschichte meint Bewegung des Geistes in der Zeit. Migration meint Bewegung der Körper im Raum. Geschichte ist Erinnerung. Migration Erkundung.

Wobei das Paradoxe dabei ist, dass nicht die Erinnerung der Geschichte auf das Feste sich bezieht, und die Migration die Erkundung des Neuen möglich macht, sondern dass vielmehr, zumindest in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Dynamik etwas anderes passiert: Dass nämlich die Migration und die Menschen, die migrieren, sehr stark mit etwas Hartem oder zumindest sich Verhärtenden konfrontiert werden, in der kulturalistisch geprägten Debatte. Und dass dabei die Schaffung starker kollektiver Erinnerungen als Abwehrdispositiv dient: «Wir sind nicht so wie sie, wir waren schon immer ganz anders, oder zumindest sind wir schon viel weiter hier, in der Entwicklung, der Aufklärung, der eigenen Kritikfähigkeit.»

«Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war» – das könnte das unbewusste, aber umso stärkere Motto dieser Haltung sein, die den Einbruch des Fremden als Signum für das Unglück sieht, wo die Angst vor der Migration als schrecklicher Trost die Angst verdrängen, zudecken soll vor der eigenen Heimatlosigkeit in der modernen, globalisierten, digitalisierten Welt.

Ich glaube, dass… – und Sie erlauben mir diese politische Bemerkung in einer wissenschaftlichen Bibliothek, weil es ja doch eine besondere Bibliothek ist. Und weil ich mich, dafür danke ich Ihnen, nicht dem Misstrauen des Fremden ausgesetzt fühle, sondern glaube, dem Schutze des Gastes und der Gastfreundschaft vertrauen zu dürfen, im Wissen darum, dass ich, wie sich das für den Gast gehört, auch bald wieder aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit entfernen werden.

Ich glaube also, dass eine der besten, praktischsten, einfachsten und gleichzeitig herausforderndsten Antworten gegen diese Geschichte der Fremdenfeindlichkeit, welche sich selbst als natürliche, nicht politische, sondern viel eher schon fast biologische Reaktion zu konstruieren und damit unangreifbar zu rechtfertigen sucht, dass eine der besten Antworten darauf tatsächlich Geschichten sind, in der Mehrzahl, und in dem, was eben Geschichten ausmacht: dass sie erzählt werden, von Mensch zu Mensch, und mit- und nacherlebt.

Unser Abend zu Migrationsgeschichte(n) – das sollte für uns, so hoffe ich, eine spannende und genussreiche Anregung sein, zu sehen, wie Forschende ihr Interesse entwickeln, ihre Methoden suchen, ihre Theorien überprüfen: Ich wünsche Ihnen bei der Lektüre, der Befragung Ihrer lebenden Bücher ganz viel kluge Erkenntnis, aber auch viel Spass!