Parlament: Milizsystem oder nicht?Lesedauer ca. 4 Minuten

Mythos oder Mittel für mehr Nähe? Gerhard Pfister verteidigt in der E-Mail-Debatte das Milizsystem, Balthasar Glättli im Prinzip auch – aber er hätte gern mehr Entlastung.

Balthasar Glättli:

Geschätzter Kollege, diese Woche sorgte eine Studie zu Aufwand und Entschädigung der Parlamentarierinnen und Parlamentarier für einigen Wind. Glauben Sie noch an den Mythos Milizparlament? Oder meinen Sie, wie ich, dass es endlich an der Zeit wäre, das Parlament gegenüber einer übermächtigen Verwaltung zu stärken?

Gerhard Pfister:

Ich glaube nicht an einen Mythos, sondern an einen Erfolgsfaktor der Schweizer Politik. Das Milizsystem ist ein wirksamer Beitrag, die Schweizer Politiker vor Betriebsblindheit, Abgehobenheit, Realitätsverlust und Volksferne zu bewahren. Keine Garantie natürlich.

Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ein Berufsparlament der Schweiz keinen Mehrwert bringt. Gerade die Erfahrung aus dem Berufsleben stärkt mich gegenüber der Verwaltung und ihren Interessen.

Balthasar Glättli:

Zu Recht wirft man ja vielen Wirtschaftsvertretern vor, weit weg von der Stimmung der Bevölkerung zu sein. Wenn nun die gleichen Personen auch noch in der Politik aktiv sind, sind sie dann automatisch realitätsnäher? Kaum. Und jene, die vorher eine Betriebsblindheit im eigenen Unternehmen gehabt haben, werden nicht einfach zu Vertretern des Gemeinwohls im Parlament.

Ich meine: Abgehobenheit und Volksferne werden den Parlamentariern nicht durch das Milizsystem abtrainiert, sondern durch die direkte ­Demokratie.

Gerhard Pfister:

Wenn man die linken Initiativen betrachtet, oder die weltfremden Statements gewisser linker Politiker, würde ich den Vorwurf der Abgehobenheit nicht nur bei Wirtschaftsexponenten, sondern auch bei linken Kreisen erheben können.

Zwischen direkter Demokratie und Milizprinzip sehe ich einen nötigen Zusammenhang. Gerade die Abstimmungskämpfe nach Schweizer Art geben nur Politikern Glaubwürdigkeit, für die Politik nicht das ganze Leben ist. Zudem ist keine bessere Qualität von den Entscheidungen von Berufspolitikern zu erwarten. Wenn ich Kollegen sehe, die ausschliesslich von der und für die Politik leben, habe ich nicht den Eindruck, dass deren Arbeit so viel besser ist als diejenige von politisierenden Berufsleuten.

Balthasar Glättli:

Ich bin einer jener Kollegen, bei denen die Politik der Hauptberuf ist. Das heisst ja noch lange nicht, dass ich daneben nicht noch andere Engagements habe. Aber ich glaube auch nicht, dass ich die Erwartungen meiner Wählerinnen und Wähler erfüllen könnte, wenn ich nur die Hälfte arbeitete.

Nationalrat und Fraktionspräsident ist ein spannender Job: Es braucht Sachkenntnisse. Politisches Gespür. Führungsstärke. Juristische Grundlagen. Medien- und Kommuni­ka­tions­erfahrung. Auftrittskompetenz. Kampagnen­leidenschaft. Ich führe Buch. Seit Anfang Jahr habe ich 1154 Stunden in den Nationalrat investiert oder für Aufgaben im Zusammenhang mit dem Mandat. Das sind im Schnitt 8 Stunden, 7 Tage die Woche. Dazu kommen noch die 30 Prozent meiner Assistentin. Als Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbands Deutschschweiz arbeitete ich in der gleichen Periode 100 Stunden, in meiner Einzelfirma nochmals etwas weniger. Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich sei kein Profipolitiker. Bin ich deshalb ein schlechter Politiker?

Gerhard Pfister:

Sie sind ein guter Politiker in einem Milizsystem! Als solcher sind Sie aber auch zu mehr Effizienz gezwungen und vereinigen Funktionen, die in andern Ländern Vollzeitstellen für mehrere Personen sind. Ich habe aber schon vor Jahren angeregt, dass man die Absurditäten des Entschädigungssystems beseitigt. Damals ohne Erfolg. Jetzt gibt es Vorstösse von links bis rechts, die das endlich auch aufarbeiten wollen.

Ich sehe nämlich nicht ein, warum Spesenvergütungen auch ausbezahlt werden, wenn man sie gar nicht beansprucht hat. Es verstösst meiner Meinung nach gegen das Milizprinzip, 180 Franken für eine Übernachtung in Bern zu erhalten, wenn man gar nicht in Bern, sondern daheim übernachtete. Das sind Fehlanreize, die das Milizsystem schwächen. Ebenso haben die Politiker steuerfreie Einkommensanteile, die die Bevölkerung nicht hat. Auch das gehört abgeschafft.

Balthasar Glättli:

Die Änderung der Besteuerung wird ja von links bis rechts unterstützt. Miliz ist o.k. für mich, wenn es nicht heisst, dass Parlamen­tarier nebenbei so tun, als wären sie voll im Berufsleben. Ich will keine Politikerkarrieren wie in Frankreich: mit Politiker-Unis, die Politiker für die Politik ausbilden. Wer in den Nationalrat kommt, hat Jahre in einem Beruf gearbeitet. Und wird das nach seinem Rücktritt auch wieder tun müssen. Auf diese Erfahrungsvielfalt möchte ich nicht verzichten. Das heisst für mich Miliz.

Das ersetzt aber nicht die Stärkung des Parlaments gegenüber der Verwaltung mit einem parlamentarischen Mitarbeiter zu einem anständigen Lohn. Schliesslich noch dies: Parlamentarier zu sein, ist ein qualifizierter Job. Da erwarte ich – auch als Wähler – qualifizierte Arbeit. Gehen Sie etwa zu einem Teilzeit-Chirurgen mit der Begründung, dass dieser den Kontakt zu den Patienten besser beherrscht, weil er nebenbei noch als Sachbearbeiter in einer Versicherung arbeitet?

Gerhard Pfister:

Nein, aber ich bevorzuge das schweizerische Milizsystem gegenüber allen andern. Die Entscheide unseres Parlaments sind in der Regel nicht schlechter als die anderer ­Parlamente, auch wenn sie nicht von Politprofis getroffen worden sind. Im Gegenteil. So viel Patriotismus gestatte ich mir bei der Verteidigung einer Politikform, die fast ­einzigartig ist in der Welt, wie so manches Schweizerische.

© NZZ am Sonntag; «Seit Anfang Jahr habe ich 1154 Stunden in den Nationalrat investiert»; 14.05.2017