Mein Gespräch mit Asli ErdoganLesedauer ca. 8 Minuten

Vom 18. bis 23. Juni 2017 reiste ich zusammen mit einer Delegation in die Türkei, zuerst nach Istanbul, dann nach Diyarbakir. Hier ein erster Auszug aus meinen persönlichen Reisenotizen, von unserer Begegnung mit Asli Erdogan am 19. Juni in Istanbul. (Foto: © Peter Käser) 

Eine kurze Vorbemerkung: Dies sind meine Reisenotizen, die ich nicht stark überarbeitet habe. Der Text wechselt zwischen der indirekten und der direkten Rede… aber er widerspiegelt in jedem Falle einfach das, was ich verstanden habe, die Notizen wurden Asli Erdogan nicht zur Kontrolle vorgelegt.

Wir grüssen Asli Erdogan aus Zürich. Sie entschuldigt sich zuerst für ihren Zustand, sie sei nicht mehr die gleiche Person, seit sie im Gefängnis gewesen ist. Sie macht uns einen durchaus klaren geistigen Eindruck, wirkt aber gebrochen und verunsichert. Sie habe ihr Haar gefärbt, das sei eine typische Reaktion vieler weiblicher Gefangenen, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen worden sind.

Asli Erdogan geht zuerst auf die Anklage ein, welche sie in verschiedenen Punkten als sehr dumm und unglaubwürdig kritisiert. So sei einer der Anklagepunkte, dass sie für die PKK Werbung gemacht habe, und dies zu einem Zeitpunkt, als sie voll damit beschäftigt war, sich auf die Reise als Writer-In-Residence der Stadt Zürich vorzubereiten und dann auch nach Zürich gereist ist.

Sie erklärt auch, dass ein Problem der aktuellen Situation nicht nur die Verhaftungen sind, sondern – dort wo Verurteilungen erfolgten – die bisher unerhörten Straflängen, teilweise sogar mehrfach lebenslänglich. Normale Kriminelle haben nicht nur viel kleinere Strafen, sondern sie müssen diese auch nicht oder nur teilweise absitzen. Die politischen Strafen werden länger vollzogen.

Sie wurde angeklagt wegen ihres Einsitzes im Advisory Board der Zeitung Özgür Gündem, auch wenn das Advisory Board keine rechtliche Verantwortung hat für die Zeitung. Unlogisch ist auch, dass andere Mitglieder des Boards nicht inhaftiert wurden. Erdogan hat den Eindruck, sie sei auch symbolisch ausgesucht worden. Es ist absurd, dass sie eine PKK-Leaderin sein sollte, immerhin lernte sie erst jetzt im Gefängnis überhaupt ihre ersten paar Brocken kurdisch.

Die Zeitung war legal, es gibt viele andere, welche dort schrieben. Zwar gab es hunderte von Verfahren gegen einzelne Artikel, aber nie eines gegen das Advisory Board. Diesbezüglich ist das Presserecht klar: verantwortlich für den Inhalt eines Artikels sind der oder die Autorin oder allenfalls der Chefredaktor.

Wir fragen nach den Bedingungen der Inhaftierung und dem Leben im Gefängnis.

Das Gefängnis Bakirkoy ist ein Frauengefängnis in Istanbul mit etwa 900 normalen Strafgefangenen und etwa 100 politischen Gefangenen. Bei den politischen Gefangenen gibt es die normalen politischen Gefangenen, dann die PKK-Beschuldigten und schliesslich die FETÖ-Beschuldigten. Letztere dürfen ihre AnwältInnen nur eine Stunde pro Woche sehen und alles wird mit Video aufgezeichnet. Asli Erdogan erzählt von einer Begegnung im Gefängnis mit einer ihr bekannten Journalistin, welcher FETÖ Verbindungen vorgeworfen werden. Während Asli von einer Wachperson begleitet wurde, war diese von fünf Personen bewacht – und als Asli sie begrüssen wollte, wurde sie von diesen regelrecht weggeschleppt. Es ist klar: Kontakte zwischen den Gefangenengruppen sind verboten.

Folter hat sie selbst nicht erlebt, sagt sie, aber es ist offensichtlich, dass gefoltert wird. Die Fotos der FETÖ-Beschuldigten nach dem Staatsstreich vor einem Jahr wurden ja offiziell geschossen und veröffentlicht, sie sprechen eine deutliche Sprache.

I try to be the bridge between turks and kurds.
Asli Erdogan

Alle ausländischen weiblichen Gefangenen der Türkei sind in Bakirkoy inhaftiert. Es sind zwischen 100 und 200. Es hat auch Kinder im Gefängnis, dadurch ist das Regime etwas weniger hart.

Das Leben im Gefängnis ist teuer, die Insassen müssen bezahlen für die Kantine, den Strom, Notizbücher etc. Jede Insassin hat ein Gefängnis-Konto. Bei vielen überweisen die Angehörigen Geld auf das Konto. Für Ausländerinnen bleibt nur die Arbeit. Es gibt verschiedene Arbeitsmöglichkeiten. Beliebt ist das kleine Textilatelier, welches Arbeiten für Firmen ausführt. Diese zahlen den Behörden pro Person den türkischen Mindestlohn von 1000 TL pro Monat, davon erhalten die Insassinnen aber nur 200 TL. Andere Arbeiten sind viel anstrengender, diese werden v.a. von Ausländerinnen, die strengsten vorab von Schwarzen ausgeführt. In der Küche sind vor allem die Südamerikanerinnen.

Innerhalb des Gefängnisses gibt es viel Rassismus. Die afrikanischen Frauen arbeiten von acht bis 24 Uhr, sie machen sehr harte Arbeit, bewegen schwere Gegenstände, und das für 150 TL/Monat. Erdogan spricht von Sklaverei.

Bei den gewöhnlichen Gefangenen konnte sie wenig Solidarität beobachten, im Hof waren oft schwere Kämpfe zu beobachten. Unter den politischen Gefangenen dagegen gibt es eine enorme Solidarität. Wenn jemand von den Wärtern belästigt wird, dann wehren sich alle für sie. Als ich einmal Streit mit einer anderen Insassin hatte, da haben dies die PKK-Frauen geregelt. Die anderen politischen Gefangenen haben sich selbst ein dichtes Programm auferlegt mit Diskussionen und Schulung. Das dauerte sicher jeden Tag sechs Stunden, zu Politik, Philosophie, Feminismus. Ich habe hier aber nicht mitgemacht.

Im Gefängnis wurde ich zur Expertin im Rausschmuggeln von Briefen, Reden und so weiter. Die Wärter waren immer wieder erstaunt, wenn dann von mir diese Texte erschienen. Richtige Texte, also literarisch schreiben, das konnte ich allerdings nicht. Denn hier bin ich gewohnt, allein zu sein, ich brauche das zum Schreiben – und im Gefängnis ist man eigentlich nie allein.

Auch wenn ich seit Ende Dezember entlassen wurde, frei fühle ich mich nicht. Das wäre vielleicht anders, wenn das Gericht meine Unschuld festgestellt hätte. Das ist aber nicht der Fall – und so fühle ich mich weiterhin eigentlich mit einem Bein im Gefängnis.

Das Gefängnis ist eine Institution, die systematisch die Erniedrigung und das psychische Zerbrechen der Insassen zum Ziel hat. Dies hat auch meine Persönlichkeit tief verändert. Mein Selbstbewusstsein wurde gebrochen. Als ich herauskam, konnte ich keine Entscheidungen mehr treffen, auch nicht die kleinsten. Ich war wie ein kleines Kind. Ich stieg in die falschen Busse, ich konnte mich beim Einkaufen plötzlich nicht mehr an den PIN-Code meiner Karte erinnern, ich musste andere Leute die Entscheidungen in meinem Leben fällen lassen.

Für mich sind das klare Symptome eines posttraumatischen Stresssyndroms (PTSD): ich leide an Vergesslichkeit. Ich vergesse Abmachungen, ich vergesse Treffen. Es kann sein, dass ich zum Einkaufen die Wohnung verlasse und dann eine Minute später nicht mehr weiss, was ich eigentlich vorhabe. Und all dies nach «nur» vier Monaten Untersuchungshaft.

Ich kenne diese Symptome, von einem Freund, den ich seit einem Jahrzehnt kenne und der viel länger im Gefängnis war als ich. Er wurde auch gefoltert. Bei ihm ist all das noch viel schlimmer.

Man könnte sich ja vorstellen, dass die Amnesie ein Schutzmechanismus ist gegen das Erlebte – aber das ist es nicht. Ich vergesse nicht die traumatischen Ereignisse, sondern ganz praktische Sachen, Alltagssachen. Ich leide auch an Schlaflosigkeit und meine dann immer, erbrechen zu müssen.

Am schwierigsten war für mich der Schock. Der Schock, als ich inhaftiert wurde. Ich hatte nie erwartet, dass ich verhaftet würde. Ich bin in keiner Partei. Ich hatte einfach diese Kolumne gehabt und war im Beirat. Klar: ich bin eine Frau, eine unabhängige Frau. Allein. Nicht kurdisch. Noch etwas bekannt in Europa. Vielleicht war ich deshalb gefährlicher, weil ich eben gerade nicht in die HDP-Schublade passte.

Interessant ist, dass nicht einer meiner Artikel je nach dem Erscheinen angegriffen oder zensuriert wurde und vor Gericht gebracht – und das seit 18 Jahren. Und nun werden plötzlich diese Artikel als Beleg für meine PKK-Unterstützung angeführt… absurd.

Ich war eine der ersten, die über Vergewaltigung schrieb. Und auch in der ersten Person. Und so kam ich zur Kurdenfrage, weil ich über die Vergewaltigung von drei jungen Kurdinnen geschrieben habe. Vermutlich einer meiner besten Artikel.

Ebenfalls kritisiert wurde mein Text «Ein Tagebuch des Faschismus – heute». Es ist ein innerer Monolog. Der Ankläger sagte, dies sei ein Monolog der Soldaten, die die PKK angreifen. Dabei ist der Text komplett abstrakt. Die Anklage wollte einen Zusammenhang zwischen einem Armee-Einsatz gegen die PKK herstellen und meinem Text, der durch den Monolog die Position der dabei engagierten Soldaten schlecht darstellen würde. Der erwähnte Vorfall hat allerdings im Juni stattgefunden – der Artikel dagegen war einen Monat früher geschrieben worden. Als ich das erwähnte, ist der Ankläger errötet.

Auch in den Özgür Gündem-Kreisen selbst sehen sie mich eigentlich als Literatin, nicht als politische Schriftstellerin. Ich finde, das Didaktische in den traditionellen Polit-Artikeln tötet die Literatur. Meine Kolumnen sind die Stimmen der Opfer. Das ist es, worum es mir geht.

Ich bin ein einsamer Mensch. Einsame Menschen sind vielleicht die besseren Beobachter. Der Beobachter von aussen, der Outsider sieht möglicherweise mehr als der Insider, vielleicht seht ihr als Beobachter aus der Schweiz auch besser, was in der Türkei vor sich geht.

Nochmals zur Anklage: Ich wurde nach dem Strafgesetz[i] Artikel 302 und 314 angeklagt: 302 ist der Verstoss gegen die territoriale Integrität des Türkischen Staates, eine sehr seltene Anklage, wie sie z.B. gegen Öcalan ins Feld geführt wird. Und Artikel 314 ist die Gründung oder Mitgliedschaft einer bewaffneten Organisation gegen die Türkei. Diese Anklagepunkte wurden unterdessen fallengelassen – aber andere bleiben aufrecht.

Bei den meisten der Angeklagten werden ihre Pässe für ungültig erklärt, sie erhalten ein Ausreiseverbot. Und oft gilt das nicht nur für die Angeklagten selbst, sondern auch für ihre Familien, für Frauen und Kinder.

Das Fazit von Asli Erogan: I try to be the bridge between turks and kurds.

Zum Schluss des Gesprächs betont Asli Erdogan, wie wichtig die internationale Unterstützung ist: Besuche, aber auch Berichte in den verschiedensten Ländern darüber, was momentan in der Türkei passiert.

[i] Turkish Penal Code (english): http://legislationline.org/ (PDF)