«Gutes Gespür für Mass und Mitte»Lesedauer ca. 4 Minuten

War es die Zivilgesellschaft? Oder einfach das Stimmvolk? Balthasar Glättli und Gerhard Pfister analysieren den Ausgang des letzten Abstimmungssonntags.

Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, nach dem Nein zur Durchsetzungsinitiative sprach man häufig von einem «Sieg der Zivilgesellschaft» und einem «Gnadenstoss für die SVP». Ich finde beides falsch. Wie sehen Sie das?

Balthasar Glättli: Totgesagte leben länger. Der Niedergang der SVP wurde schon so oft beschworen, dass ich mit Ihnen einiggehe: Die Gerüchte über den Tod der SVP sind stark übertrieben. Nicht zuletzt, weil es ihr gelang, praktisch gleich viele Leute für ein Ja zur Durchsetzungsinitiative zu mobilisieren wie 2010 für die Ausschaffungsinitiative. Die Gegenmobilisierung ist in dieser Breite dagegen historisch – finden Sie nicht?

Gerhard Pfister: Nicht historisch, aber bemerkenswert. Selbstüberhöhung verhindert die Analyse. Es ist den Gegnern gelungen, die vielen Schwächen der Initiative herauszuarbeiten. Den Initianten ist es dagegen nicht gelungen, kohärente Antworten zu liefern, sie waren widersprüchlich. Das ist Gift für die Kampagne. Zudem haben die Medien nicht mehr – wie bei der Masseneinwanderungsinitiative – kokettiert mit dem Anliegen. Aber Volksentscheide sind weder «Siege» noch «Niederlagen», sondern abschliessende Entscheide einer Debatte und Aufträge für die Politik. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn Bundesrätin Simonetta Sommaruga am Abstimmungssonntag verlangt, dass kein Schwerverbrecher nicht ausgeschafft werden soll, macht sie eine Grenzüberschreitung, die sie andern vorwirft. Wer von einem «Sieg der Zivilgesellschaft» spricht, grenzt diese von einer Classe politique ab – genau wie die Partei, die man deswegen bekämpft.

Balthasar Glättli: Dass die SVP trotz guter eigener Mobilisierung im Bereich sogenannter Ausländerkriminalität eine Abstimmung mit fast 60 Prozent verliert, ist aus meiner Sicht durchaus historisch. Das Resultat ist auf viele Umstände zurückzuführen. Den Kampf um die Deutung der Abstimmung verstehe ich weniger als Versuch, die historische Wahrheit zu finden, sondern den weiteren Verlauf der politischen Auseinandersetzungen zu beeinflussen. Dass die Gewinner nun mit dem Verweis auf die Zivilgesellschaft in ihrer Sprache betonen, dass das «Volk» nicht einfach die SVP ist oder der SVP gehört, ist in diesem Sinn zu verstehen und richtig. Für mich selbst ist aber eine andere Lehre zentral, gerade als Gegenmodell zur Dominanz des Populismus, die wir mit Trump in den US-Vorwahlen erleben: Es ist möglich, eine differenzierte inhaltliche Debatte über komplexe juristische und staatspolitische Themen zu führen – und zu gewinnen. Das hat mich, als ich das klare Resultat am Sonntag fasste, am meisten berührt.

Gerhard Pfister: Mich hat das auch am meisten überrascht – positiv. Ich hoffe einfach, dass man jetzt auch das Herumschrauben an den Volksrechten beendet! Die Schweizerinnen und Schweizer haben ein gutes Gespür für Mass und Mitte, auch bei Initiativen. Sie erlauben sich aber auch ab und an, Zeichen zu setzen, wo sie dringenden Handlungsbedarf sehen. Wenn das jetzt noch die Mehrheit der Medien begreift, sind wir einen wichtigen Schritt weiter in der Diskussionskultur. Empörungsbewirtschaftung gehört nicht zur Aufgabe der Medien.

Balthasar Glättli: …und auch nicht zu jener der Politiker. Die Abstimmung ist zwar nicht vergleichbar: Ich hoffe aber, dass eine vergleichbar differenzierte Debatte auch für die Restrukturierung im Asylbereich möglich sein wird, die am 5. Juni zur Abstimmung kommt, wegen eines Referendums der SVP. Nach dem Motto «Probleme lösen statt bewirtschaften» müssen wir dort wohl gemeinsam zeigen, dass das Parlament gearbeitet und gerungen hat. Für mich hat es harte Verschärfungen im Gesetz. Die Rekursfristen sind extrem kurz. Aber dafür wird endlich ein unentgeltlicher Rechtsbeistand eingeführt. Was sich im Testbetrieb enorm bewährte: Die Zahl der Rekurse ist entgegen allen Erwartungen nicht gestiegen, sondern gesunken. Weil die Asylgesuche professioneller vorbereitet sind und darum rascher korrekt entschieden werden konnten. Natürlich ist das hart für jene mit einem negativen Entscheid. Aber für die tatsächlich Schutzbedürftigen – immerhin rund sechzig Prozent – ist das gut. Und auch für die Schweiz. Der Integrationsprozess kann rascher beginnen, Flüchtlinge können rascher die Sprache lernen und auch Fuss auf dem Arbeitsmarkt fassen. Dass Ihr Vorstoss für eine bessere Arbeitsmarktintegration am Donnerstag eine Mehrheit fand, hat mich gefreut. Denn selbst wenn vorläufig Aufgenommene wieder gehen müssen, ist es gut, wenn sie dies mit einem gefüllten Ausbildungsrucksack tun können.

Gerhard Pfister: Beim Asylgesetz haben wir Konsens. Mich müssen Sie aber nicht überzeugen, sondern wir beide die Bevölkerung. Die Ausgangslage ist ähnlich, aber doch in wesentlichen Punkten anders als letzten Sonntag. Es wäre völlig falsch, zu meinen, die gleiche Konstellation, die gleiche Kampagnengestaltung liessen sich auf den Abstimmungskampf zum Asylgesetz übertragen. Was gleich bleibt: die sachliche, faire Auseinandersetzung, die emotionalen Debatten (die nötig sind und kein Widerspruch zur Fairness) sowie das Vertrauen darauf, dass Schweizerinnen und Schweizer differenziert und wohlüberlegt stimmen – selbst oder gerade wenn man sich als Politiker für die andere Meinung eingesetzt hat.

Balthasar Glättli: Ja, der 5. Juni ist nicht der 28. Februar. Und trotz allem Konsens beim Asylgesetz: Ihre Forderung nach einer Obergrenze bleibt für mich total inakzeptabel – dazu kreuze ich ein andermal gerne die Klinge mit Ihnen. Sachlich und emotional!

Quelle: NZZ am Sonntag, 06.03.2016