Liebe GRÜNE,
Cher verts, chères vertes (la lettre en français),

Unsere Welt, unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaftsweise muss sich dringend ändern. Heute werden natürliche Ressourcen, aber auch die menschliche Arbeitskraft und Kreativität oft rücksichtslos ausgebeutet, nur um dann die so entstandenen Produkte innerhalb von immer kürzerer Zeit wieder wegzuwerfen. Unsere Wegwerfgesellschaft verhält sich so, als gäbe es keine natürlichen Grenzen. Als hätten wir einen zweiten, einen dritten Planeten, den wir ausbeuten könnten, wenn der erste leer ist.

Aber dem ist nicht so. Wir haben nur eine Erde. Einen einzigen Planeten, auf dem wir die Chance haben, eine solidarische, respektvolle und faire Gesellschaft aufzubauen.

Wir haben nur einen einzigen Planeten, auf dem wir die Chance haben, eine solidarische, respektvolle und faire Gesellschaft aufzubauen

Die momentane Lage macht mich beinahe sprachlos. Denn vor fast 30 Jahren, Anfang der 1990er Jahre, als ich den GRÜNEN beigetreten war, hatte wir bereits genau dieselben Debatten. Lasst mich das erklären.

Nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Ende der sogenannten Systemkonkurrenz, stand der Kapitalismus vor der Herausforderung, sich in ein neues Licht zu rücken. Der Westen konnte nicht mehr einfach nur das bessere von zwei konkurrierenden Systemen haben, sondern er musste den Menschen aufzeigen, dass dies wirklichen Wohlstand für alle schaffen konnte – und zwar auf nachhaltige Weise. Bereits in den 70er Jahren war im Osten wie auch im Westen die Kritik an unbegrenztem Wirtschaftswachstum gewachsen, Kritik daran, dass ein irrationaler Produktivismus das ökonomische Denken dominierte. Diese kritischen Denkansätze ebneten den Weg für die Entstehung einer Bewegung der politischen Ökologie. Sie ergänzte jene Bewegung, welche sich für die Erhaltung der Natur und der Landschaft einsetzte. Gemeinsam bildete dies die Grundlage für die Entstehung ökologischer Parteien, die in den 1980er Jahren an Dynamik gewannen und die schliesslich unter dem politischen Dach der Grünen Schweiz zusammenfanden.

Zu Beginn der 90er Jahre, als ich als junger Mensch den GRÜNEN beitrat, waren die Debatten ganz ähnlich wie heute.  An der zweiten Weltklimakonferenz, die 1990 in Genf stattfand, wurde der erste Bericht des Weltklimarates (IPCC) diskutiert. Der berühmte UN-Umweltgipfel in Rio 1992 eröffnete in der internationalen Politik die Diskussion rund um das Thema Nachhaltigkeit. Und 1996 trug der Internet-Grundrechtsvordenker John Perry Barlow – am WEF in Davos – seine berühmte Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace vor.

Vieles hat sich seitdem verändert. Ja. Aber noch viel mehr hat sich leider nicht bewegt. Weil kaum ein Land, geschweige denn die Staatengemeinschaft, konkrete griffige Massnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise eingeleitet hat. Denn das einzige effektive Mittel, um wirklich gegen die globale Klimaerwärmung anzukämpfen, wäre ein schrittweiser Ausstieg aus allen fossilen Energieträgern gewesen mit dem Ziel: Null Öl. Null Gas. Null Kohle.

Kennen Sie den Film «Und täglich grüsst das Murmeltier»? Jeden Morgen, wenn der Wecker klingelt, beginnt wieder der gleiche Tag von vorne. Im Film bleibt der Hauptdarsteller so lange in diesem Tag stecken, bis er seinem Leben einen Sinn gegeben hat. Wenn ich die heutige Situation mit derjenigen vergleiche, die ich vor 30 Jahren erlebte, beschleicht mich die Befürchtung, dass die Politik und unsere Gesellschaft, dass wir alle in einer ähnlichen, jahrzehntelangen Endlosschleife gefangen sind.

Aber eine Sache hat sich geändert. Und die ist grundlegend. Die Klimakatastrophe und das Artensterben sind dringlich. Die neuen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung entziehen sich immer stärker und immer schneller jeder menschlichen und politischen Kontrolle, jeder Beherrschung der Technik… Angesichts dieser Dringlichkeit haben wir keine weiteren dreißig Jahre zu verlieren, um endlich politisch angemessen zu handeln. Nicht dreissig, nicht zwanzig, nicht einmal zehn Jahre.

Was ich euch vorschlage, ist eine grüne Politik, die angesichts dieser Herausforderung eine echte, glaubwürdige und positive Alternative zeichnet.

Wir GRÜNE sollten für eine Politik stehen, die das gute Leben möglich zu machen versucht – mit mehr Musse für gemeinsamen Genuss statt gestressten Konsum. Eine Miteinander-Gesellschaft, statt eine Wegwerf-Gesellschaft!

Der Mensch, das sagte schon Aristoteles, ist ein politisches, ein geselliges Tier, oder um es etwas moderner zu sagen: ein soziales Wesen. Und dieses Zusammenleben wollen die GRÜNEN stärken. Für ein gutes Leben, das Musse hat für gemeinsamen Genuss statt gestressten Konsum. Wo das Teilen alle bereichert. Wo Wohlstand sich auch misst an der Zeit, die man hat für sich, für seine Familie, sein Quartier, seine Freunde – und nicht nur an der Menge der Gegenstände, die man kaufen und wieder wegwerfen kann. Gerade wenn wir die physikalischen Grenzen endlich respektieren, kann das eine Chance sein, um mehr individuelle und soziale Freiheit zu schaffen.

Meine persönliche Definition von nachhaltiger Politik ist: demokratisch zu erreichen, dass die natürlichen Grenzen respektiert werden – damit die künftigen Generationen weniger Sachzwänge und mehr Freiheit haben als wir.

In diesem Sinne möchte ich mich für die Grünen Schweiz einsetzen: nicht, weil wir  viel zu verlieren haben, sondern weil wir alles zu gewinnen haben.

Ich kandidiere für die Präsidentschaft der Schweizer GRÜNEN im Bewusstsein, dass diese Rolle bei den GRÜNEN klare Grenzen hat. Im Gegensatz zu anderen Parteien bestehen die GRÜNEN nicht nur aus einem faktischen Präsidenten und seiner Gefolgschaft. Die GRÜNEN sind eine Bewegung. Eine Graswurzelbewegung. Eine demokratische Bewegung. Eine Mitmach-Partei. Und das ist richtig so. Denn wenn wir zusammenspannen, dann sind wir reicher, vielfältiger und stärker als alle von uns je für sich.

Die historischen Wahlergebnisse vom letzten Herbst, insbesondere jene in der Romandie, haben die GRÜNEN und ihre Vertretung im Bundeshaus unglaublich gestärkt. Grüne Vertreter*innen in beiden Kammern, werden mit ihrer Kompetenz, ihrer Begeisterung und Leidenschaft die politischen Debatten bereichern, und ich freue mich auf die Diskussionen und die Zusammenarbeit mit ihnen und mit allen Mitgliedern der GRÜNEN.

Gemeinsam schaffen wir es: Eine andere Welt ist notwendig – und möglich.

Balthasar Glättli

P.S.: Wenn Du über meine Kandidatur auf dem Laufenden gehalten werden willst, abonniere einfach meinen Newsletter! Und wenn Du einen Artikel aus der ZEIT nachlesen willst, der mich schon 1992 prägte, klicke hier. Zusammenfasst sagt die Autorin: wir brauchen auch keine autoritär gesicherte „Kultur des Verzichts“, sondern eine „Kultur des Genießens“.  Wenn Du mehr Zeit zum lesen hast, dann empfehle ich das Buch von Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum. Hier ein kurzer Beschrieb dazu.