Der Philosoph mit WitzLesedauer ca. 4 Minuten

© Die Weltwoche, Willy Wottreng (16.07.1998; Seite 30) Es ist unwahr, dass er nackt durch Zürich geflitzt ist. Es ist unwahr, dass er sich als Mittelschüler den Kopf mit Drogen vollgestopft hat. Es ist unwahr, dass er ein Hacker ist. Aber all das wäre ihm zuzutrauen, darum halten sich die Legenden über ihn hartnackig.

Wahr ist, dass er ein philosophischer Kopf ist und auch ein Philosophiestudium begonnen hat, das er zum Bedauern seiner Professoren abbrach, weil er es ebenso spannend fand, eine Internet-Beratungsfirma aufzubauen. Wahr auch, dass er jahrelang für ein autofreies Zürich gekämpft hat und dafür auch kleiderlos durch die Stadt gerast wäre, wenn es etwas gebracht hatte; gerne bietet er den Medien ihren Teil.

Er ist mit 26 Jahren Zürichs jüngster Stadtparlamentarier – und er hat den Grünen nach seiner Wahl gleich sich selbst als Fraktionspräsidenten vorgeschlagen, worauf diese eingingen. Denn er ist gleichzeitig frech wie akzeptiert. Er ist ein Fraktionschef mit einer Zielsetzung: «Ich habe mir als erstes vorgenommen, die Positionen zu klären und den Grünen ein schärferes Profil zu verleihen.»

Wieselflink wirkt er, er kämpft eher mit dem Florett als mit dem Zweihänder. Und er glaubt, dass Philosophie mehr als nur das Salz der Politik ist. «Es geht darum, am Ende der Arbeitsgesellschaft eine Perspektive zu finden, in der die Menschen sich und ihren Ort in der Gesellschaft nicht mehr über die Arbeit definieren.» Er kann’s auch konkret sagen: «Es braucht das garantierte Existenzminimum für alle!», wozu er verschmitzt anmerkt: «Und eine neue Kunst des Müssiggangs.»

Balthasar Glattli glaubt an Visionen und daran, dass solche in der Politik wichtig sind, «Auch wenn das autofreie Zürich derzeit nicht mehr der Heuler ist, glaube ich, dass man in irgendeiner Stadt der westlichen Hemisphäre einmal versuchen muss, auf den Alltagsgebrauch des Autos zu verzichten. Warum nicht in Zürich? Die Probleme wären wohl nicht grösser als jene, die der wachsende Verkehr heute stellt», räsoniert er. Er hat «Alltagsgebrauch» gesagt, denn der Formel-1-Fan hätte nichts dagegen, gleichzeitig mit der Verbannung des Motors aus der Stadt zum «Sonntagsgebrauch» irgendwo Bergrennen zu veranstalten.

26-Stunden-Woche eingeführt

Er ist kein Misthaufengrüner, «auch wenn ich mich für den Erhalt eines Torfmoores durchaus in eine Schlammschlacht stürzen würde». Seine Positionen sind meist eine Drehung raffinierter. Die Verachtung der Altachtundsechziger gegenüber der konsumorientierten Street Parade mag er nicht teilen: «Sie ist ein folkloristisches Volksfest geworden wie das Sechseläuten.» Er lacht hellauf.

Und er hat keine Angst vor unheiligen Koalitionen: Mögen viele Junge für die Öffnung der Schweiz Richtung Europa schwärmen, er kann dem gar nichts abgewinnen. «Während wir in der Schweiz dafür kämpfen müssen, dass die Städte und Ballungszentren in diesem Land eine institutionelle Mitwirkung erhalten, sollen wir supranational bereits Bestimmungsrechte an einen Ministerrat abgeben? Das ist absurd», argumentiert er. Dass er mit seinem Nein in die Nähe der SVP gerät, kontert er mit dem Hinweis: «Die unheiligste Allianz in der Europafrage besteht im Zusammengehen von Sozialdemokratie und Grosskapital.» Natürlich ist er nicht für die Igelmentalität: «Ich kann nicht verstehen, dass die Grenzen innerhalb Europas abgebaut werden sollen, wahrend man gleichzeitig die Mauern gegenüber der Welt ausserhalb Europas erhöht.»

Über das Engagement für die Dritte Welt ist er ja auch in die Politik geraten. «Ich gründete in Bubikon eine Gruppe mit dem Namen ‹wum› (Welt – Umwelt – Mitwelt), weil mich die Dorfpolitik einer zahnlosen SP wenig begeisterte.» Zu kämpfen hatte er schon gelernt, als er an Leukämie erkrankte und die Krankheit überwinden musste, vielleicht hat ihn das aber auch nachdenklicher gemacht als andere. Der Mittelschüler begann sich zu engagieren. Er wurde bald von den Grünen entdeckt und in einem Wahlkampf eingespannt. Doch in die Partei trat er erst ein, als auch seine Wahl in den Bezirksvorstand feststand: «Ich will gestalten», bekennt er. Wenn er etwas macht, dann mit Haut und Haar.

Einen Drittel der Arbeitszeit opfert er mittlerweile für die Politik, dafür haben er und sein Partner die Arbeitszeit in der eigenen Firma vorbildlich auf 26 Stunden Normalarbeitszeit pro Woche hinuntergeschraubt und dafür neue Arbeitsplätze geschaffen, was auch vom guten Geschäftsgang zeugt.

So jung er ist, er versteht sich nicht mehr als «Jungpolitiker». Er ist eine der starken Figuren der Zürcher Grünen. Und man wird in den kommenden Jahren von ihm hören. «Politik ist ein Teil meiner Existenz. Denn Politik ist an sich eine sinnstiftende Tätigkeit. Staatskunst könnte man sagen.»

WILLI WOTTRENG

Quote «Es geht darum, dass sich die Menschen nicht mehr über ihre Arbeit definieren.»