Endlich. Die Schweiz hat vorgestern die Konsequenzen gezogen. Zusammen mit Deutschland und Österreich. Alle drei Länder haben ihre Zusagen zurückgezogen, den Bau des türkischen Ilisu-Staudamms mittels Exportrisikogarantie zu unterstützen. Mit 225 Millionen Franken an entsprechenden Bürgschaften wollte der Bundesrat involvierte Schweizer Baukonsortien unterstützen. Und blieb lange stur.
Zu lange. Denn lautstarke und kompetente Kritik am Staudammprojekt war nicht erst seit gestern deutlich auch hier in der Schweiz zu hören. Nicht nur ökologische Gründe sprechen nämlich gegen den Monsterstaudamm. Auch ein brauchbares Konzept zur Umsiedlung der archäologisch bedeutenden Stadt Hasankeyf blieb die Türkei bis jetzt schuldig. Und die ungenügende Entschädigung der 55’000 Vertriebenen und noch zu Vertreibenden verstärkt den Verdacht, dass hier im Kurdengebiet auch eine Kriegsführung mit anderen Mitteln im Gange ist. Warum hat sich unsere Regierung so lange geziert? Warum so lange alle kritischen Argumente in den Wind geschlagen? Vielleicht war’s ja – falsch verstandene – Wirtschaftsförderung, die dafür den Ausschlag gab. Vielleicht war’s auch einfach nur Mutlosigkeit.
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Mutlosigkeit. Sie prägte auch die Entscheidung der Regierung, den klaren Auftrag des Parlaments zu missachten, die Entwicklungshilfe wenigstens auf 0.5% des Bruttonationaleinkommens (BNE) anzuheben. Etwas mehr gefordert hatten über 200’000 Unterzeichnende der Petition „0.7% – Gemeinsam gegen Armut“. Nämlich der internationalen Empfehlung zu folgen und 0.7%. des BNE in Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Der auch von Bürgerlichen mitgetragene Kompromiss von 0.5% hatte dann letzten Dezember im ganzen Parlament eine Mehrheit gefunden. Immerhin. Nun krebst der Bundesrat zurück.
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Drohende Mutlosigkeit. Das wird ja oft ins Feld geführt, wenn es darum geht, Gründe zu suchen gegen mehr Demokratie. Gegen Volkswahlen. Zum Beispiel beim Bundesrat. Müsste sie sich der Volkswahl stellen, dann könnte die Regierung nicht mehr die unangenehmen, aber mutigen Entscheidungen treffen, die sie halt zu treffen habe. So geht das Argument. Aber es sticht nicht. Denn mutig ist unsere Regierung schon heute oft nicht, wenn wir es von ihr erhoffen. Und mutig stur bleibt der Bundesrat schon heute, wenn er will. Zum Beispiel beim Vorbeiwinken der UBS Milliarden an jeder demokratischen Legitimierung. Oder beim Nachdoppeln im Tinner-Atomakten-Fall. Wo trotz anderslautender GPK Empfehlung, trotz anderslautender juristischer Interessen einfach geschreddert werden soll. Halt ein zweites Mal, wenn’s beim ersten Mal schief gegangen ist. Vielleicht hat die für gestern angekündigte Wiedererwägung ein Umdenken gebracht? Man muss es hoffen.
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Newsnetzblüten. Die sammle ich seit neusten und publiziere sie auf Facebook. So wie die folgende zum Milliardenbetrüger Madoff: „Der einst hoch geachtete Financier, der inzwischen die Gefangenen-Nummer 1727-054 trägt, umtreibt vor allem die Frage, in welches Gefängnis er verlegt wird.“ Da treibt der Sprachkünstler im Trüben, könnte man sagen. Offensichtlich hat das Tamedia-Newsnetz die KorrektorInnen bereits weggespart. Oder ist das ein verdeckter Streik der JournalistInnen – gewissermassen Dienst nach Vorschrift?
Wie dem auch sei. Ich habe einen konstruktiven Vorschlag. Zwitschern wir doch dem Onlineportal unsere Korrekturhinweise technisch modern übers Internet ins Ohr! Mit dem Schlagwort #nnbluete versehen, modische140 Zeichen kurz, via Twitter. So kann die tamedia einen Teil der Qualitätskontrolle einfach an die LeserInnen auslagern. Neudeutsch würde man das wohl als Crowdsourcing bezeichnen. Und im Softwarebereich ist es ja längst üblich, die NutzerInnen zu TesterInnen zu machen. Warum sollte dies nicht auch im Infotainmentbereich funktionieren?
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Funkstille. Die Proteste im Iran sind aus den Hauptschlagzeilen verschwunden. Der Tod des King of Pop beherrscht nun die Berichterstattung. Bad. Denn die nachlassende Aufmerksamkeit ist kaum gerechtfertigt. Die Proteste sind nicht vorbei und der Iran ist nicht über Nacht zur Demokratie geworden. Die brutale Niederschlagung der Grosskundgebungen hat den Widerstand bloss wieder mehr in seine Verstecke getrieben.
Verständlich also, dass Exil-IranerInnen nun Gelegenheiten suchen, die Protestbewegung auch im Ausland aufrecht zu erhalten. Heute abend ist eine solche Gelegenheit. Um 18.30 Uhr wird für eine Kundgebung auf dem Helvetiaplatz aufgerufen. Der 9. Juli 2009 ist der zehnte Jahrestag der letzten grossen StudentInnenproteste. Diese brachen 1999 aus, nachdem die Paramilitärs mitten in der Nacht Studentenwohnheime angegriffen hatten. Mehrere Tage lang protestierten vor einem Jahrzehnt zehntausende Studentinnen und Studenten.
Die Forderungen sowohl der Proteste im Iran als auch der Demo in Zürich gehen natürlich weit über den Ruf nach einer Wahlwiederholung und die Freilassung der Inhaftierten der vergangenen Proteste hinaus. Gefordert werden Meinungsfreiheit, Abschaffung von Folter, Todesstrafe und Steinigung, Pressefreiheit und die Beendigung der Frauendiskriminierung.
Allerdings ist es klar: Die iranischen politischen Flüchtlinge in der Schweiz möchten sich ganz von einem System der Islamischen Republik verabschieden, fordern die vollständige Trennung von Staat und Religion und begeisterten sich eher für eine moderne, linke Regierung. Das steht möglicherweise im Gegensatz zur Haltung eines grossen Teils der Protestierenden im Iran selbst.
Ob man selbst nun eine moderne westliche Regierungsform fordert, vom Sozialismus träumt oder auch eine Reformation der islamischen Republik für möglich hält: ein starker gemeinsamer Protest gegen die Verletzung bürgerlicher Grundrechte wäre schön!
Balthasar Glättli