Die Finanzkrise ist wie ein aufgelegter PenaltyLesedauer ca. 4 Minuten

Am 6. Oktober 2008 schrieb ich im Tages-Anzeiger „Die Finanzkrise ist wie ein aufgelegter Penalty“. Der Text bleibt in vielem aktuell. Und in der neuen Legislatur steht das Parlament vor der Herausforderung, den Penalty zu versenken. Hier mein Artikel von damals.

Der real existierende Sozialismus ging vor knapp zwanzig Jahren unter, weil er jeglichen Blick für die volkswirtschaftlichen Realitäten verloren hatte. Viele sahen mit dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Francis Fukuyama das «Ende der Geschichte» gekommen. Die einzig mögliche Ausrichtung der Weltwirtschaft schien die Globalisierung unter neoliberaler Flagge zu sein. Doch seit der aktuellen Krise in den USA ist klar, dass die reine Spekulation keinen Mehrwert schafft. Der Schaden für die gesamte amerikanische Wirtschaft ist riesig, gefährdet ist das globale Kreditsystem. Dies konnte nur passieren, weil man auch hier die Realwirtschaft aus dem Blick verlor.

Der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain hat als Krisenursache die Gier der Wallstreet kritisiert. Journalisten stossen ins gleiche Horn. Wer allerdings sinnvolle Strategien für eine Verbesserung finden will, darf mit der Kritik nicht auf der moralischen Ebene Halt machen.

Eine politische, keine moralische Krise

Die Finanzkrise ist vorab eine Krise der Politik. An ihrem Anfang steht nicht die Gier, sondern die Denkfaulheit der Wirtschaftspolitiker und die Verblendung der Ideologen. Das Problem des real existierenden Neoliberalismus ist nicht unbedingt, dass er das Böse ist, sondern dass er nicht funktioniert.

Wir müssen die Wirtschaftspolitik vom Kopf wieder auf die Füsse stellen, auf die Realwirtschaft statt die Spekulanten ausrichten. Dazu braucht es nicht mehr oder weniger Politik: Schliesslich war es die Politik, welche die neoliberale Wende der Achtzigerjahre ermöglichte. Was es braucht, ist eine andere Politik.

Wir hätten heute die historische Chance, ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Und hier droht die wirkliche Krise. Weil mit der Gier der Spekulanten die vermeintlich Schuldigen ja schon gefunden sind, will sich niemand über die sich häufenden Notoperationen hinaus die Hände schmutzig machen. Das ist gefährlich. Denn selbst wenn sich diese Krise mit der Vernichtung von ein paar Dutzend Milliarden Steuergeldern nochmals aussitzen liesse – weitere Krisen werden kommen. Ein grundsätzlicher Politikwechsel ist notwendig.

Gerade die linken Parteien haben heute die einmalige Chance, auch in der Schweiz den ökosozialen Umbau voranzutreiben. Die Krise ist wie ein aufgelegter Penalty: Unsere Kritik am Shareholder-Value-Kapitalismus haben wir jahrelang vorgetragen, und heute haben wir Recht bekommen. Inzwischen wird ähnliche Kritik auch unter KMU- Vertretern laut, für die der Staat im Gegensatz zu den Banken im Krisenfall keine Milliardenprogramme auflegt.

Bloss, unsere Forderung nach besseren Regulierungen der Finanzwirtschaft allein greift in dieser Situation zu kurz. Natürlich ist es richtig, wie der Chefökonom des Gewerkschaftsbundes, Daniel Lampart, anregt, Löhne über einer Million nicht mehr als Kosten zu betrachten sondern als Unternehmensgewinne zu besteuern. Natürlich ist es richtig, die maximale Grössen der Banken zu beschränken und so Klumpenrisiken zu verringern. Und natürlich muss auch die Bankenaufsicht gestärkt werden.

Darüber hinaus aber müssen wir eine breitere Analyse vornehmen, den «Zusammenhang von Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Natur, das heisst das gesellschaftliche Naturverhältnis, studieren», wie dies Politikwissenschafter Elmar Altvater formulierte. Finanzkrise und Umweltkrise haben mehr miteinander zu tun, als man auf den ersten Blick sieht. Beide passierten, weil blinde Flecken die Sicht auf die Wirklichkeit verstellten. Die Anleger glaubten, dass Börsenkurse von den realen Wirtschaftsgrundlagen abgekoppelt werden können. Der Irrglaube, dass das Wetten auf immer höhere Aktienkurse von sich aus reinen Mehrwert generiere, führte zur Finanzkrise. Der Irrglaube, dass fast unentgeltliche und vermeintlich unendlich verfügbare Energie beständiges Wachstum schaffen könne, führte zur Umweltkrise.

Werkplatz statt Finanzplatz stärken

Nun müssen nicht nur linksgrüne Parteien und Gewerkschaften, sondern auch Vertreter der Realwirtschaft zusammenspannen. Als zentrales Projekt gilt es, die riesigen Vermögen der künftigen Rentner zu schützen und besser zu investieren. Heute können Arbeitnehmer die Pensionskassen nicht selber wählen und deren Anlagepolitik faktisch nicht bestimmen. Hier müssen die freie Wahl der Pensionskasse ermöglicht und nachhaltigere Anlagestrategien vorgeschrieben werden.

Parallel dazu sollte eine hohe nationale Erbschaftssteuer die Chancengerechtigkeit für alle erhöhen. Heute ermöglicht das vererbte Kapital die Spekulationen des Geldadels. Künftig soll es unser Bildungssystem wesentlich mitfinanzieren.

Nachhaltig angelegtes Rentenkapital würde parallel dazu einen schweizerischen New Deal ermöglichen zur Forcierung des ökologischen Umbaus, zur Stärkung der Wirtschaft und zur Schaffung neuer, zukunftsfähiger Arbeitsplätze. Solche Jobs brauchen wir dringend, wenn der Finanzplatz, der bei uns auch Tausende Arbeitsplätze garantiert, ohne soziale Krise auf eine gesunde Grösse schrumpfen soll.

Erschienen im Tages-Anzeiger vom 6.10.2008

Vergleiche dazu auch den kurz danach geführten DRS 4 Talk „Ist der Kapitalismus am Ende?“ (18.10.2008)