Diesen Sommer zählt die Schweiz über 8 Millionen EinwohnerInnen. Grund für PolitikerInnen von rechts und links, eine restriktive Einwanderungspolitik zu fordern. Der Kern des Problem liegt allerdings an einem anderen Ort.
„Die Schweiz erträgt keine 5 Millionen Offroader, Privatschwimmbäder und Einfamilienhäuser an Sonnenhängen. Aber sie hat durchaus Platz für 10 Millionen Menschen, die nachhaltig leben und wirtschaften“ – so brachte ich meine Position vor einem Jahr im Ständeratswahlkampf auf den Punkt. Die Debatte um die Überbevölkerung der Schweiz ist allerdings vor allem eins: alt, breit getreten und sie wird kaum mit neuen Aspekten angereichert. Bereits in den 60er Jahren führten die Prognosen des St. Galler Professors Kneschaurek von der 10 Millionen-Schweiz zu Aufregung. Und die Debatte tönte vor Jahrzehnten ganz ähnlich wie heute, wie die Bilanz vor einem Jahr treffend schrieb. Zersiedelung und Verkehrskollaps wurden kritisiert. Gemacht wurde gegen die Zersiedelung fast nichts, dafür wurde die Mobilität massiv und in der Breite ausgebaut, zuerst auf der Strasse, dann auch beim ÖV – eher Anreiz als Abreiz zur Zersiedelung. Die Panik vor der „Überbevölkerung“ war allerdings verfehlt. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später wird die Schweiz diesen Sommer die Grenze von 8 Millionen EinwohnerInnen überschreiten. Die Angst vor den Folgen war dagegen untertrieben…
Falsche Fixierung auf die Einwohnerzahl
Die Fixierung auf die Einwohnerzahl ist nämlich die falsche Kenngrösse. Mit dem heutigen Lebensstil, der heutigen Verschwendung von Energie, Ressourcen und Boden pro Kopf wäre auch ein 5 Millionen Schweiz nicht klimafreundlich, nicht nachhaltig und ebenso zersiedelt. Von 1980 bis 2008 nahm in der Schweiz die Zahl der EinwohnerInnen von 6.3 Millionen auf 7.7 Millionen zu (+22%). Die Zahl der immatrikulierten Motorfahrzeuge stieg im selben Zeitraum jedoch von 2.7 auf 5.2 Millionen (+94%). Solange der Trend zum zweit- und Drittwagen ungebrochen bleibt, schützte uns auch ein vollständiger Bevölkerungsstopp nicht vor vollen Strassen, Staus, Lärm und Umweltverschmutzung (Quelle der Grafik: www.kyriacou.ch).
Die Lösungen sind vorhanden, die Mehrheiten müssen wir noch finden!
Darum müssen wir wieder eine Gesellschaft der nahen Wege bauen. Und unser Wirtschaft muss vom Wegwerfprinzip wegkommen. Von der Wegwerfwirtschaft zu geschlossenen Stoffkreisläufen („from cradle to cradle“) lautet auch der Kerngedanke unserer Initiative „für eine grüne Wirtschaft“. Es gibt also Rezepte für eine nachhaltigere Schweiz und ein zukunftsorientiertes Wirtschaften. Die Grünen, die Grünliberalen sind im Sammelendspurt für ihre Initiativen „Für eine grüne Wirtschaft“ und „Energiesteuer statt Mehrwertsteuer“, die SP hat bereits die „Clean Tech“ eingereicht – sie alle ergänzen sich. Nur eine stärker zentral koordinierte Raumplanung, eine griffige Mehrwertabschöpfung und innovative Rezepte wie eine Wohnraum-Lenkungsabgabe könnten zudem die Zersiedelung und den ständig steigenden Wohnflächenkonsum pro Kopf stoppen.
„It’s the economy, stupid.“
Wer dagegen von der falschen Haupt-Ursache (Zuwanderung) ausgeht, wird zwangsläufig auf die falschen Rezepte kommen: Abschottung oder eine bürokratische staatliche Zuwanderungsregulierung, wie wir sie für Jahrzehnte hatten. Zudem: Der Grund für die Zuwanderung sind weder Verschwörungen von EU-Bürokraten noch links-grüne Einwanderungsträume. Die Antwort ist weit einfacher: It’s the economy, stupid.
Das haben die Grünen bereits vor über einem Jahr bekräftigt. Die Wirtschaft ruft heute jene Arbeitskräfte, die sie braucht, um weiterzumachen wie bisher. Die Schweiz hat zudem wesentliche Defizite im Ausbildungsbereich: wir bilden weder genug Ingenieure noch genug Pflegepersonal aus. Weil umgekehrt Deutschland seit der Regierung Schröder/Fischer konstant eine unsoziale Niedriglohnpolitik verfolgt – diese Exportweltmeister-Wirtschaftspolitik ist notabene zum Schaden des ganzen Euroraums und hat wesentlich zur Krise des Euro beigetragen – ist die Schweiz für die entsprechend gut ausgebildeten deutschen ArbeitnehmerInnen zusätzlich attraktiv.
Unsere Schweizer Wirtschaft hat sich darauf verlegt, den Umsatz zu vergrössern. Das BIP pro Kopf dagegen stagniert. Statt Innovationen zu kreieren wird Menge gebolzt. Statt Energie zu sparen wird weiter verschwendet. Das muss sich ändern. Setzen wir die nötigen Anreize und die richtigen Rahmenbedingungen. Die Unterzeichnung der Initiative für eine Grüne Wirtschaft ist ein erster, konkreter Schritt.
Die Herausforderung: Sozial verträglicher Abschied vom unökologischen Wachstumszwang
Zudem ist es nicht wirklich sinnvoll, dass die Schweiz weiterhin mit Steuerdumping neue Firmen in unser Land zieht. Wenn sich der Bevölkerungszuwachs bremsen lässt – weltweit wie auch in der Schweiz – dann ist dies sicher nichts Schlechtes. Aber wer meint, damit dann einfach so schon den Königsweg zur Lösung aller künftigen Probleme gefunden zu haben, könnte sich täuschen. Die “Décroissance” (Abschied vom Wachstumszwang) bleibt für uns als Gesamtgesellschaft eine riesige Herausforderung. Diesen Wandel sozial verträglich zu gestalten, noch viel mehr!
Mehr Artikel zum gleichen Thema:
- Aufruhr im Paradies – und was man dagegen tun kann – Längere Fassung meines WOZ Artikels vom 12. Mai 2011
- Statt Jammern: Auswandern! – Kommentar mit praktischen Tipps von Christian Müller auf infosperber.ch
- Etwas gewagt titelt Beat Balzli in der Handelszeitung vom 8.8.2012: Acht Millionen Einwohner sind zu wenig
KORREKTUR 24.10.2012: Ich habe oben die falsche Angabe korrigiert, dass sich die Grafik auf die Anzahl immatrikulierter Autos bezieht. Es ist korrekt die Anzahl Motorfahrzeuge.