Bundesrat und Parlament hatten nach der Annahme der Ausschaffungsinitiative keine einfache Aufgabe. Wenn die Mehrheit der staatspolitischen Kommission des Nationalrats nun eine Umsetzung nach den Vorgaben der Durchsetzungsinitiative beantragt, ist dies aber nicht nur eine politische Kapitulationserklärung. Sondern auch ine Missachtung der doppelten Aufgabe des Parlaments: Es hat nicht nur Initiativen umzusetzen, sondern dabei auch die ebenfalls in der Verfassung festgelegten Grundprinzipien und -werte zu beachten. (Erschienen in der NZZ, 17.3.2014)
Die Schweiz versteht sich als demokratischen Rechtsstaat. Das heisst: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bedingen sich gegenseitig. Gerade weil die ausgebaute direkte Demokratie, das eine Bein, den Stimmberechtigten sehr viel Mitsprache zugesteht, ist es umgekehrt umso wichtiger, auch das andere Bein, die Grundrechte, zu beachten. Immerhin geht es dabei um fundamentale liberale Werte: die Einschränkung der staatlichen Macht durch das Prinzip, dass alles Staatshandeln durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein muss und in Beachtung des Völkerrechts erfolgt. So hält es die Bundesverfassung in Artikel 5 fest. Demokratische Volksrechte müssen immer auch durch individuelle Grundrechte ergänzt sein – sonst kann aus der Demokratie eine Tyrannei der Mehrheit werden. Doch wie wird dies institutionell garantiert?
In der Schweiz gibt es bekanntlich kein Verfassungsgericht. Und selbst die ursprünglich vom Nationalrat geforderte konkrete Normenkontrolle, gemäss der das Bundesgericht Bundesgesetze anlässlich eines konkreten Einzelfalles auf dieVerfassungskonformität überprüfen und zur Überarbeitung an die Bundesversammlung zurückweisen könnte, wurde nach dem Nein des Ständerates schliesslich in der Wintersession 2012 beerdigt. Diese Ausgangslage überträgt dem Parlament die riesige Verantwortung, im Gesetzgebungsprozess nicht nur dem Volkswillen Nachachtung zu verschaffen, der mit der Annahme einer Initiative ausgedrückt wurde, sondern gleichzeitig selbst für die Einhaltung der zentralen Grundsätze des rechtsstaatlichen Handelns zu sorgen.
Alt Ständerat René Rhinow schreibt dazu treffend: «Als Argument wurde immer wieder vorgebracht, es sei an der Bundesversammlung als oberster Behörde des Bundes, die Bundesgesetze verfassungs- und völkerrechtskonform sowie rechtsstaatlich einwandfrei zu erlassen. Dieses Argument ist insofern richtig und gewichtig, als es dem Gesetzgeber obliegt, bei all seiner Tätigkeit die Schranken des Rechts, auch und vor allem der Bundesverfassung, zu wahren. (…) Nach der Ablehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit muss sich die Bundesversammlung erst recht daran messen lassen, wie ernst sie es mit dem Schutz von Freiheit und Rechtsstaat nimmt.»
Vor dieser Herausforderung steht am kommenden Donnerstag nun als erste die grosse Kammer. Sie muss sich entscheiden: für den Ausschaffungs-Automatismus oder für die Verhältnismässigkeit; für den Ausschaffungs-Automatismus oder für die Einhaltung völkerrechtlicher Garantien. Der Bundesrat hat hier einen Kompromissvorschlag vorgelegt, den ich als Minderheitsvertreter unterstütze und den auch die Rechtskommission in ihrem Mitbericht zur Annahme empfiehlt. Der Mehrheitsvorschlag dagegen kollidiert sowohl mit der Bundesverfassung als auch mit dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die in Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 13 den Anspruch auf eine Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung des Rechts auf Privat- und Familienleben festschreibt.
Wer nun argumentiert, die Verantwortung für eine verfassungs- und völkerrechtskonforme Umsetzung könne ja schliesslich das Bundesgericht übernehmen, übersieht, dass dieses vor ein unlösbares Dilemma gestellt würde. Wie ginge es mit dem schwarzen Peter um? Entweder legt es das Gesetz nicht in jedem Falle wörtlich aus, um dem Völkerrecht und der Verhältnismässigkeit Nachachtung zu verschaffen. Dabei verstiesse es seinerseits gegen Artikel 190 der Bundesverfassung, welcher eine konkrete Normenkontrolle bei Bundesgesetzen ausschliesst. Würde das Bundesgericht das Gesetz umgekehrt wörtlich anwenden, so wären Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR absehbar. In der Konsequenz wäre dann das Bundesgericht wiederum gemäss dem Bundesgerichtsgesetz gezwungen, sein eigenes Urteil zu revidieren.
Beide Fälle wären stossend. Und sie wären ein gefundenes Fressen für alle, welche die Kritik an einem angeblichen Richterstaat und sogenannt fremden Richtern anheizen wollen und den Grundrechtsgarantien unserer Verfassung und der EMRK ganz generell skeptisch gegenüberstehen – vor allem dann, wenn diese auch für ungeliebte Minderheiten gelten.
Sollte das Parlament seine – zugegeben schwierige – Aufgabe als Verfassungshüter nicht wahrnehmen, hat das offensichtlich rein politische Gründe: die Angst vor dem Abstimmungskampf und vor einem Erfolg der Durchsetzungsinitiative. Sollte tatsächlich die Rechtsstaatlichkeit auf dem Altar des politischen Taktierens geopfert werden, gäbe die Bundesversammlung ihre selbstgewählte Rolle als Verfassungshüterin preis und beschränkte sich auf eine rein politische Funktion.
Dass die grosse Mehrheit der Kommission die Durchsetzungsinitiative selbst gemäss dem Antrag des Bundesrates korrekterweise für teilungültig erklärt und dann materiell ablehnt, ist vor diesem Hintergrund kein Grund zur Erleichterung. Denn die gleiche Mehrheit hat sich von der SVP treiben lassen und in ihren Anträgen zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative den Rest der Durchsetzungsinitiative praktisch bereits übernommen. Ich kenne dafür ein treffendes Bild: Selbstmord aus
Angst vor dem Tod.
Balthasar Glättli
Dieser Text erschien in der NZZ (Meinung und Debatte 17.03.14 / Nr. 63 / Seite 15)