Integration: Anpassung, Multikulti oder Zusammenleben?Lesedauer ca. 2 Minuten

Haben Sie auch eine Beige mit gespannt gekauften aber nie fertig gelesenen Büchern neben dem Bett, im Wohnzimmer oder im Büro? Mir geht es so. Und die Ferien geben jeweils Gelegenheit, ein paar davon in den Koffer zu packen. Und sie in Ruhe am Strand oder in den Bergen zu Ende zu lesen.

© Benjamin Klack  / pixelio.de
© Benjamin Klack / pixelio.de

So habe ich endlich «Die Identitätsfalle. Warum es den Krieg der Kulturen nicht gibt.» vom indischen Wirtschaftswissenschafter und Philosoph Amartya Sen gelesen. Topaktuell angesichts der Auseinandersetzungen im Nahen Osten, in Syrien, in der Ukraine. Da erleben wir täglich, wohin es führt, wenn die Identität von Menschen ganz einfach reduziert wird. Wenn die falsche Religion nicht nur zu Vorurteilen führt, sondern im schlimmsten Fall zum Todesurteil wird.

Bereits vor 9/11, also vor dem Anschlag von Al-Kaida gegen die USA, hatte die Rede vom «Kampf der Kulturen» Hochkonjunktur. Alle Konflikte liessen sich auf einen Kulturkampf zwischen den grossen Zivilisationen und Religionen zurückführen, schrieb simpel schon 1998 Samuel Huntington. Auch wenn er selbst seine Position später differenzierte, ist die Idee, dass wir von unserer Vergangenheit und Zivilisation, besonders auch von unserer Religion geprägt sind, heute noch sehr präsent. Dass dabei zumindest bei den Religionen der Anderen von der allerfundamentalistischsten Variante ausgegangen wird, hilft bei der Verständigung sicher nicht!

Mein Sommerbuch stellt all dies in Frage. Sens Argument ist einleuchtend: Niemand antwortet auf die Frage «Wer bist Du?» nur mit einer einzigen Eigenschaft. Identität hat viele Facetten. Ich bin zu gleicher Zeit Mann, Zürcher, Politiker, Terrassengärtner, Schweizer, Zürichdeutsch-Sprechender, Computer-Freak, Sohn, aus der Kirche ausgetreten, an Ideen des religiösen Sozialismus interessiert, Grüner, Website-Programmierer, Freund, Europäer, Bruder, … Je nach Situation ist die eine oder die andere oder eine dritte Seite von mir wichtig.

Was könnte das für die Integration und die Integrationspolitik in der Schweiz heissen? Für mich dreierlei. Erstens sollten wir versuchen, gegenseitig offen miteinander umzugehen – die gemeinsamen Teile unserer «Identität» suchen und nutzen zur Verständigung. Zweitens haben die realen Integrationsprobleme, der reale Ärger mit der ausländischen Nachbarin oder dem ausländischen Mitarbeiter oft weniger mit tiefen kulturellen Unterschieden zu tun. Sondern mit Missverständnissen und Unkenntnissen über einfache Alltagsdinge. Wie man in der Schweiz den Abfall entsorgt. Wie die Waschküchenordnung aussieht. Da braucht es keine teuren Kampagnen, da hilft manchmal einfach Klartext. Nicht belehrend, sondern schlicht erklärend. Drittens heisst Integration weder Anpassung noch simples Multikulti-Nebeneinander. Sondern das nicht immer einfach Suchen nach einer gemeinsamen Zukunft, welche Menschen nicht auf ihren Rucksack, ihre Herkunft reduziert, sondern ihre Wünsche, Fähigkeiten ernst nimmt.

Balthasar Glättli, Nationalrat Grüne

Der Artikel erschien Anfang September in der Zeitung «andere seiten» des Bezirks Andelfingen.