Email-Debatte in der NZZ am Sonntag vom 28. Dezember 2014: Gerhard Pfister sagt als Konservativer: Zukunft braucht Herkunft. Balthasar Glättli ist dies zu psychoanalytisch, er pflegt seine skeptische Seite auf andere Art.
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, das kommende Jahr wird uns neben den Wahlen auch verschiedene geschichtliche Jubiläen bringen: 700 Jahre Morgarten, 500 Jahre Marignano, 200 Jahre Wiener Kongress. Allesamt gute Möglichkeiten, über die Schweiz, ihre Vergangenheit und ihre Position in Europa nachzudenken. Wie halten Sie es mit diesen Ereignissen der Schweizer Geschichte?
Balthasar Glättli: Geschichte hat einen hohen Anteil Kontingenz. Sie ist zwar spannend – aber als Leitfaden für die Zukunft wenig geeignet. Darum mag ich die Beschwörung oder auch nur das blosse Zitieren der Vergangenheit nicht so recht – ob das nun von rechts oder links kommt. Es sagt als Argument meist mehr über die aus, die es verwenden, als über die Zukunft der Schweiz oder gar die tatsächliche Vergangenheit.
Gerhard Pfister: Mit Verlaub, so verkrampft kenne ich Sie gar nicht. Selbstverständlich gibt es verschiedene Sichtweisen auf die Vergangenheit, aber gerade so wenig Lerneffekt, wie Sie jetzt behaupten, haben diese Ereignisse wohl auch nicht. So lässt sich an der Diskussion um Morgarten beispielsweise durchaus ableiten, wie die Schweiz sich heute gegenüber grösseren Mächten verhalten soll. Die Berufung der alten Eidgenossen auf das Naturrecht der Freiheit des Menschen ist von zeitloser Gültigkeit, wenn auch immer wieder neu zu gestalten. Die Europafrage wird eine der wichtigsten Auseinandersetzungen des Wahljahres und darüber hinaus werden. Die Freiheit der Schweiz gerät immer mehr unter Druck. Die EU ist eine zunehmend der Schweiz gegenüber feindliche Veranstaltung. Da hilft die Rückbesinnung auf die Geschichte durchaus.
Balthasar Glättli: Rückbesinnung – ja. Verstehen wollen – sicher. Aber eigene Werthaltung und Politik durch die eigene Darstellung der Vergangenheit rechtfertigen – bitte nicht. Mir kommt es so fremd vor, wenn Schweizer sich auf die Schlacht am Morgarten berufen, wie wenn Serben der Schlacht auf dem Amselfeld gedenken. Im politischen Gebrauch sind diese Ereignisse das, als was wir sie erinnern – ausgewählt, fragmentarisch. Sonst müsste die SVP in ihrem Kult um Marignano ja womöglich noch für eine neue «ewige Richtung» mit Frankreich oder gar mit der EU plädieren…
Gerhard Pfister: Zukunft braucht Herkunft, und Globalisierung braucht Heimat. Gerade die Geschichts- und Heimatvergessenheit der EU ist für mich eine der Ursachen für das mittelfristige Scheitern des Projekts einer wirklichen europäischen Wertegemeinschaft. Im Wahlkampf werden auch die Grünen nicht darum herumkommen, sich in der Europafrage zu positionieren. Und da gibt es auch bei Ihnen Skeptiker und Turbos, oder?
Balthasar Glättli: Durchaus! Aber die Grüne Fraktion positionierte sich als erste nach dem 9. Februar klar – als alle Bundesratsparteien noch wie ein Mann hinter dem Crashkurs des Bundesrats standen. Wir forderten schon im März die Beibehaltung der Bilateralen und eine nichtdiskriminierende Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Nicht nur EU-Beitritt-Skeptiker wie ich sehen dies als realpolitisch angezeigte Lösung, sondern auch die Beitrittsbefürworter in unserer Fraktion. Wir werden im Wahljahr betonen, dass die Personenfreizügigkeit auch einen innenpolitischen Wert hat: Sie erlaubte es erstmals, für zwei Drittel der Einwohner ohne Schweizer Pass viele frühere Diskriminierungen aufzuheben. Das bleibt der zentrale Aspekt!
Gerhard Pfister: Seinerzeit positionierten sich die Grünen aber gegen den EWR – mit entsprechenden Folgen. Die Personenfreizügigkeit ist mit dem Entscheid vom 9. Februar stark infrage gestellt worden. Insofern ist dem Bundesrat – und den Bundesratsparteien – kein «Crashkurs» vorzuwerfen, sondern im Gegenteil das ernsthafte Bemühen zu attestieren, einen Volksentscheid zu respektieren.
Balthasar Glättli: Wie soll es denn konkret weitergehen?
Gerhard Pfister: Wir müssen in diesem Land die Diskussion um die Personenfreizügigkeit und die Bilateralen enttabuisieren. Wenn der Wirtschaft diese Verträge so wichtig gewesen wären, hätte sie sich stärker eingesetzt im Abstimmungskampf. Vielleicht müssen auch in dieser Frage neue Impulse aus der Schweiz kommen – oder aus Grossbritannien, wo man auch die Grenzen der Grenzenlosigkeit stärker diskutiert. Wenn im kommenden Wahljahr die Diskussion so geführt wird wie bisher, bringt das meines Erachtens wenig. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen guten Rutsch ins Wahljahr und freue mich, wenn die Europadiskussion dann hoffentlich etwas vielfältiger wird. Sie werden sehen: Die Rückbesinnung auf historische Ereignisse der Schweiz wird 2015 dazu wertvolle Beiträge liefern!
Balthasar Glättli: Die Grenzen der Grenzenlosigkeit diskutiere ich gerne, auch wenn es um die angeblichen Segnungen des Wirtschaftswachstums geht – eine Debatte für sich! Aber zurück zum Thema: Den Wohlstandsinseln den Nutzen, die Kosten und das Leid den anderen – diese Globalisierung à la carte ist auf die Länge weder ethisch vertretbar, noch machtpolitisch durchzusetzen. Hier sitzt die Schweiz im gleichen Boot wie die EU. Und hat mit ihrer Rolle als Drehscheibe des Rohstoffhandels sogar besondere Verantwortung. Ich wünschte mir, dass wir uns auch dieser Verantwortung 2015 stellen. Weniger psychoanalytisch («Zukunft braucht Herkunft») als mit konkreten Lösungen.