E-Mail-Debatte in der NZZ am Sonntag vom 3. Mai 2015: Gerhard Pfister hält nichts vom Tag der Arbeit, beneidet die Linke aber trotzdem darum. Balthasar Glättli betont die internationalistische Dimension des Tages.
Balthasar Glättli: Geschätzter Kollege, wie halten Sie es mit dem 1. Mai? Für mich als Zürcher ist und bleibt der 1. Mai nicht nur eine Art Klassenzusammenkunft der Zürcher Linken aller Schattierungen. Bei allem Altmodischen – Sie würden das vielleicht positiver als Tradition bezeichnen – bleiben die Anliegen des 1. Mai heute eigentlich aktueller denn je. Was heisst Solidarität, nicht nur innerhalb der Schweiz, sondern auch mit den Arbeitern jener Regionen, die unsere Konsumprodukte heute herstellen? Wie wehren wir uns für ein anderes Wirtschaften, das das Wohlergehen der Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht den Gewinn?
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, ach Gott! Ich kann den 1. Mai schon lange nicht mehr ernst nehmen, abgesehen von den Hooligans und Sachbeschädigungen, die meistens dazugehören. Die nehme ich ernst, weil sie zeigen, worum es den Freizeit-Anarchie-Touristen geht. Der 1. Mai ist wie ein christlicher Feiertag: Viele haben frei, wenige wissen noch, warum. Zudem reden da meistens Grossverdiener über die Sorgen und Nöte der angeblich Ausgebeuteten, obwohl Letztere Erstere nicht (mehr) wählen. Aber natürlich beneide ich die Linken auch etwas um die jährliche Möglichkeit, auf öffentlichem Grund gratis Parteitage abzuhalten, mit starker medialer Beachtung. Schliesslich können sie auch mit dem heimlichen Einverständnis der meistens linksdominierten Stadtexekutiven rechnen. Das machen sie gut!
Balthasar Glättli: Höre ich da etwas heraus, das sonst die Rechte den Linken zum Vorwurf machen will: ein bisschen Neid? Das würde mich ja freuen – zeigt es doch, dass der 1. Mai durchaus ernst zu nehmen ist. Ein Problem benennen Sie allerdings indirekt treffend: Nicht nur Sie, sondern auch die Medien gewähren ein paar ärgerlichen Polit-Hooligans oft die meiste Aufmerksamkeit und grössere Schlagzeilen als den Inhalten, derentwegen auch dieses Jahr sogar bei strömendem Regen in Zürich 10 000 Menschen auf die Strasse gegangen sind. Mir ist der 1. Mai auch wegen der internationalistischen Dimension wichtig: Gerade in einer Zeit, in der sich eine oft rücksichtslose Globalisierung durchgesetzt hat, ist es zentral, die Augen zu öffnen dafür, dass wir in der Schweiz Wirtschaftszweige haben, die nicht funktionieren würden, wenn sie sich im Ausland an Schweizer Regeln und Anstand halten müssten.
Gerhard Pfister: Neid insofern, als der De Wecksche Service public den radikalen politischen Positionen mehr Präsenz gewährt als der Mitte, auf diese aber dann bei Abstimmungen als Steigbügelhalter zählt. Aber das ist ein anderes Feld. Wenn Sie jetzt den 1. Mai zur globalisierungskritischen Veranstaltung umdeuten, machen Sie es sich zu leicht, weil Sie damit den Marxismus eliminieren. Warum singt man denn noch die Internationale, wenn man gleichzeitig den Wirtschaftsnationalismus zurückwünscht? So viel Ambivalenz und Widerspruch kriegt man auch mit dem ausgefeiltesten dialektischen Materialismus -in Ihrem Jargon wohl: Diamat – nicht weggeputzt. Entweder nehmen Sie Marx ernst, dann bestimmt Ihr Sein Ihr Bewusstsein, und Sie handeln und denken als Mitglied der globalen Herrschaftsklasse. Oder Sie geben Marx unrecht und entziehen dem 1. Mai die ideologische Grundlage. Wie lösen Sie diesen Widerspruch auf?
Balthasar Glättli: Solange die Globalisierung nur eine ist von Kapital und Gütern und allenfalls eine von einzelnen durch die Industrieländer nach den eigenen Bedürfnissen ausgewählten Arbeitskräften, so lange wäre es allerdings vermessen, wenn Sie dies als «internationalistisch» bezeichnen würden! Zu Recht hat Jürgmeier 2000 unter dem paradoxen Titel «Menschen wie Waren behandeln» geschrieben: «Ich habe gelernt, listig zu werden (. . .), deshalb träume ich jetzt davon, dass Menschen endlich behandelt werden wie Bananen und Banknoten.»
Gerhard Pfister: Die Gewerkschaftszeitung «work» fordert in ihrer neusten Ausgabe ein neues Zimmerwald – in Anlehnung an das berühmte Treffen linker Revolutionäre von 1915. Die Linke müsse wieder internationalistischer denken und handeln, heisst es.
Balthasar Glättli: Tatsächlich muss sich die Linke und mit ihr auch die Gewerkschaftslinke selbstkritisch hinterfragen, wie sehr sie einer internationalen Solidarität von unten heute noch verpflichtet ist. Und wie weit sie sich einer nationalen Austeritätslogik unterordnet oder diese – wie in Deutschland, bezeichnenderweise unter Rot-Grün – gar selbst gefördert hat. Zum Schluss zu Marx: Sie nehmen wohl Ihr Anfangsbeispiel der kirchlichen Feiertage zum Vorbild und meinen, am 1. Mai werde ein Gottesdienst zelebriert! Das ist nicht der Fall. Genauso wenig wie jeder, der am 1. August den Schweizerpsalm singt, ein Diamant-Anhänger ist, ist nicht jede, die am 1. Mai die Internationale singt, eine unreflektierte Diamat-Nachbeterin. Für die Aufhebung Ihres angeblichen Widerspruchs reichte schon eine kleine Dosis des italienischen Marxisten Antonio Gramsci.
Gerhard Pfister: Die Austeritätslogik nenne ich soziale Marktwirtschaft, die den meisten gesellschaftlichen Schichten in Europa nie gekannten Wohlstand beschert hat. Weil nach Marx die ökonomischen Verhältnisse unser Bewusstsein bestimmen, verkümmern die einstmals grossen Aufmärsche zu spärlichen Ansammlungen versprengter Kohorten von Altmarxisten, die sich selbst widerlegen. Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno meinte: «Es gibt kein richtiges Leben im falschen.» Bei manchen Fans des 1. Mai trifft das offenbar immer noch zu.
Quelle: NZZ am Sonntag, 3.5.2015