Bei der Altersvorsorge kämpfen Balthasar Glättli und Gerhard Pfister für einmal gemeinsam – oder jedenfalls fast: Für einen urnentauglichen Kompromiss.
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege. Die Entscheide des Nationalrats zur Altersvorsorge 2020 waren für mich eine einzige Enttäuschung. Aus einem ausgewogenen, klugen und beim Volk mehrheitsfähigen Konzept des Ständerats ist ein Trümmerhaufen gemacht worden, der Mehrkosten, Mehrbelastungen und einen deutlichen Leistungsabbau für unsere Rentnerinnen und Rentner bringt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Balthasar Glättli: Für einmal bin ich ziemlich Ihrer Meinung. Die Vorlage des Ständerats war zwar definitiv nicht das Wunschprogramm der Linken und Grünen. Aber ein tragfähiger Kompromiss, geschmiedet von alten Häsinnen und Hasen. Ebenso stossend wie die beschlossenen Inhalte fand ich auch das Vorgehen. Wenn nach einer – sage und schreibe – 55-stündigen Monster-Kommissionsberatung in letzter Sekunde ganz neue Konzepte beantragt werden, dann ist das – ganz unbesehen der Inhalte – schlicht ein unseriöses und unverantwortliches politisches Manöver.
Gerhard Pfister: Das sehe ich nicht so eng. Das gehört zur Realität des parlamentarischen Betriebs. Interessanter ist für mich, wie vor allem die SVP aufgrund des Drucks ihrer Basis sich von den eigenen Mehrheiten distanzierte. Rentenabbau ist auch für bürgerliche Seniorinnen und Senioren ein No-Go. Also taten FDP und SVP alles, um zu verschleiern, dass sie genau das wollen: aufbrechen des Pakets, Heiratsstrafe nicht mildern, sondern die Ehe und eingetragene Partnerschaft weiter mit tieferen Renten bestrafen. Und die widersprüchlichste aller Pirouetten: die KMU, die kleineren und mittleren Unternehmen, mit «massiven Mehrkosten im Tieflohnbereich belasten», wie es der entsetzte Gewerbeverband konstatierte. Selten haben FDP und SVP den Gewerblern mehr geschadet als mit diesem 4,5-Milliarden-Unsinn. Die sogenannte Wirtschaftskompetenz der Grünliberalen war für mich ohnehin seit je mehr Marketingbehauptung als Realität. Aber dass FDP und SVP so KMU-feindlich entscheiden, die FDP gleich zum zweiten Mal nach Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, das hab ich noch nie erlebt.
Balthasar Glättli: Den Entscheid zur Masseneinwanderungsinitiative sehen wir anders – darüber debattieren können wir ein andermal. Aber die Verschleierungstaktik der SVP war wirklich ein Theater der besonderen Sorte, allerdings eher eine schlechte Unterhaltung, meine ich. Dass sich die grünliberale Partei und dazu noch in der Person des Kommissionssprechers als Steigbügelhalter für SVP/FDP anbot und so die Reform definitiv an die Wand fuhr, hat mich aber auch sehr gewundert. Kathy Riklin brachte es auf den Punkt: Da wurde das politische Erbe unter anderem von Verena Diener von deren eigener Partei zunichtegemacht.
Gerhard Pfister: Die CVP wird im Ständerat an ihrer Position festhalten. Ich bin überzeugt, dass nur dieser Weg zu einer Vorlage führt, die vor dem Volk eine Chance hat. Die Senkung des Umwandlungssatzes und die Erhöhung des Rentenalters für Frauen sind richtige, notwendige Schritte. Aber sie müssen ausgeglichen werden. Die Rentnerinnen und Rentner werden die Vorlage annehmen oder ablehnen, je nachdem, ob sie im Gesamten eine massive Einbusse erleiden müssen oder eben nicht. Die Senkung des Umwandlungssatzes wurde vom Volk, auch von vielen Bürgerlichen, deutlich abgelehnt. Eine erneute Ablehnung ist nicht zu verantworten, denn das bringt die Pensionskassen in enorme Probleme.
Balthasar Glättli: Wesentlich erscheint mir, dass die Kompensation für Rentenkürzungen in der ersten Säule erfolgt, wie dies der Ständerat wollte. Die Erhöhung des Frauenrentenalters ist einer jener Punkte des Ständeratskompromisses, der für mich tatsächlich eine Kröte ist, bei der ich nicht ganz sicher bin, ob sie mir nicht im Hals stecken bleibt.. Einerseits ist klar: Es gibt für jemanden, der die Gleichstellung anstrebt, als Schlussziel sicher nicht unterschiedliche Rentenalter. Andererseits sind Frauen in der Vorsorge durch die Lohnungleichheit und den Koordinationsabzug weiter klar benachteiligt. Wünschenswert wäre ein Gesamtpaket, das Gleichberechtigung im Negativen wie im Positiven schafft.
Gerhard Pfister: Diese Kröte müssen Sie schlucken, denn darin besteht keine Differenz mehr zwischen den Räten. Das ist so entschieden. Aber ich gebe Ihnen recht: Gerade weil Frauen häufiger keine zweite Säule haben, muss für die Erhöhung des Rentenalters in der AHV eine Kompensation, also eine Erhöhung der Rente um 70 Franken erfolgen. Gerade deshalb ist die Lösung des Ständerats eine Notwendigkeit. Ich bin überzeugt: Wenn sich die Räte einigen, wird am Ende die Lösung des Ständerats dastehen. Wenn sie sich nicht einigen, ist auch das Projekt Altersvorsorge 2020 gescheitert. Wenn nicht im Parlament, dann garantiert vor dem Volk. Die CVP steht für eine Reform ein, nicht gegen das Volk, sondern nur mit dem Volk.
Balthasar Glättli: Dass diese Kröte auf dem Teller sitzt, ist klar – aber mein Schluckreflex funktioniert noch keineswegs ganz automatisch. Es ist zwingend, im Ständerat die Kompensation um 70 Franken in der ersten Säule, also bei der AHV, zu sichern. Wenn die CVP standfest beim Kompromisspaket bleibt und mithilft, dass der Ständerat sich in der Differenzbereinigung durchsetzt, soll mich das sehr freuen. Das ist letztlich die einzige Möglichkeit, eine Reform zu verabschieden, die vor dem Volk bestehen kann. Nach der jetzigen 4,5 Milliarden Franken teuren Nationalratsvariante lecken sich nämlich nur Banken und Versicherungen die Finger.
© NZZ am Sonntag; «Selten haben FDP und SVP den Gewerblern mehr geschadet»; 02.10.2016; Ausgabe-Nr. 40; Seite 20