Wem soll man trauen bei der Steuerreform? Gerhard Pfister hält sich an das Urteil der Kantone. Balthasar Glättli trauert der Vorlage des Bundesrates nach.
Balthasar Glättli: Geschätzter Kollege, als Mitte Januar unsere Kollegen Rutz und Badran an dieser Stelle über die Unternehmenssteuerreform, die USR III, diskutierten, dachte ich: Badran hat zwar recht. Aber Rutz wird gewinnen. Nun scheint das Rennen tatsächlich offen.
Gerhard Pfister: Der Ausgang ist tatsächlich offen. Die Vorlage ist komplex, die Gegner fokussieren auf Schwachstellen, und es ist immer einfacher für ein Nein zu kämpfen als für Zustimmung. Man kann Kritik üben, ohne Alternativen aufzeigen zu müssen. Aber die Steuerreform ist enorm wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz. Davon hängen Arbeitsplätze, Staatsleistungen und Wohlstand ab. Deshalb verdient sie Zustimmung. Das sehen Sie wohl anders?
Balthasar Glättli: Das ist ja bereits der erste offensichtliche Schwachpunkt der Befürworter. Sie drohen wie Sie hier bei einem Nein zur überladenen Reform mit der Abwanderung von Abertausenden von Arbeitsplätzen. Dabei bleibt nach einem Nein zuerst einmal alles, wie es ist, für zwei oder drei Jahre. Es ist also eine hohle Drohung, das kann man auf der Strasse in einem Satz entlarven. Zweitens sind die Linke und die Grünen glaubwürdig, wenn sie sagen: Wir wollen und brauchen tatsächlich eine Reform des Steuer-Dumping-Modells. Aber die abgeschafften Privilegien sollen nicht überkompensiert werden. Und die Kosten dürfen nicht auf den einfachen Steuerzahler überwälzt werden.
Gerhard Pfister: Es ist keine Drohung, sondern schlichte Tatsache. Das, was Sie als Steuer-Dumping verunglimpfen, ist internationaler Wettbewerb. Steuerliche Attraktivität ist nicht die einzige, aber eine wichtige Voraussetzung für Wohlstand und Arbeitsplätze. Die CVP hat im Ständerat erreicht, dass die Vorlage von allen Kantonen bis auf einen, der sich enthält, unterstützt werden kann. Ein Nein lässt eben nicht «alles, wie es ist», sondern erhöht die Rechtsunsicherheit. Wir verzeichnen bereits seit Jahren Zurückhaltung bei langfristigen Investitionen. So ist die Schweiz nur noch auf Rang 30 weltweit, was die Attraktivität von Geschäftstätigkeiten angeht («ease of doing business index» der Weltbank). Es wird enorm anspruchsvoll, eine neue Vorlage zu bringen, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kantone abbildet.
Balthasar Glättli: Rechtsunsicherheit gibt es, wenn die Schweiz neue und überflüssige Steuerschlupflöcher kreiert. Den grossen Reibach machen jene Beratungsfirmen, deren Lobbyisten die Vorlage massiv beeinflussten und die nun ihren Kunden auch gleich die neuen Steuerschlupflöcher erklären dürfen. Die Frage ist berechtigt, ob diese neuen Schlupflöcher nicht zu gross sind. Dann wäre das bei allen Akteuren unbestrittene Ziel der Vorlage ad absurdum geführt, nämlich international nicht mehr haltbare Privilegien abzuschaffen. Und neue Reformen müssten her. Wenn die Stimmberechtigten jetzt die Notbremse ziehen, ist das klüger. Bundesrat und Parlament müssen dann das Rad nicht neu erfinden. Sie können eine ausgewogenere Vorlage bringen nach dem Muster dessen, was der Bundesrat in die Vernehmlassung geschickt hat. Diese Vorlage hätte eine Gegenfinanzierung gebracht, damit nicht der einfache Steuerzahler am Schluss die Zeche zahlen muss. Und zwar via Kapitalgewinnsteuer – wie sie in allen europäischen Ländern zum Standard gehört – und mit einer Beschränkung des 2008 eingeführten Dividendenrabatts auf einheitliche 30 Prozent. Auch 21 Kantone begrüssten das im Übrigen.
Gerhard Pfister: Natürlich werden bei einer Ablehnung alle diese Vorschläge wieder auf den Tisch kommen. Aber wir haben hier wohl fundamental andere Auffassungen. Wer bestimmt denn, was «international nicht haltbare Privilegien» sind? Organisationen und Staaten, die dann selbst das Gegenteil tun! Gerade die USA gehören seit Jahr und Tag zu denen, die andern Ländern gegenüber Macht vor Recht setzen, sich selbst aber nicht an internationale Standards halten. Die Schweiz tut gut daran, weiterhin einen eigenständigen Weg zu gehen und internationale Standards dann zu übernehmen, wenn sich die grössten Konkurrenten auch daran halten. Die Stossrichtung Ihrer Vorschläge ist klar, Sie wollen mehr Regulierung, weniger Wettbewerb und mehr Staat. Solche Vorschläge haben die EU zu einer Zone gemacht, die immer weniger wettbewerbsfähig ist, und das geht zuerst zulasten der Schwächsten. Ein starker Sozialstaat braucht eine starke Wirtschaft. Eine starke Wirtschaft gibt es nur, wenn man unternehmerische Freiheit zulässt, wenn Leistung sich lohnt, wenn die Besteuerung moderat ist. Das sichert die Steuerreform.
Balthasar Glättli: Mit dem Projekt gegen «Base Erosion and Profit Shifting» schaffen die OECD und die G-20-Staaten ja internationale Standards gegen Steuer-Dumping und das Verschieben von Gewinnen in Steueroasen. Die Schweiz täte gut daran, hier aktiv mitzuwirken, statt den Fehler mit dem Bankgeheimnis zu wiederholen und neue Blackboxes zu schaffen wie die Mega-Patentbox, in die Konzerne neu auch alle IT-Profite «verschoppen» können. Dass Deregulierung und Steuer-Dumping für Grosskonzerne am Schluss dem Mittelstand etwas bringe – diesem Märchen sitzen die Leute nicht mehr auf. Denn sie wissen: Natürliche Personen sind halt nicht mobil. Und darum bedient man sich am Schluss bei ihrem Portemonnaie.
Gerhard Pfister: Gerade der Mittelstand profitiert davon, in einem international wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort leben zu können. Wir beide werden uns hier kaum einig – umso besser, dass in der Schweiz das Volk bei solchen politischen Differenzen entscheidet.
© NZZ am Sonntag; «Wenn die Stimmberechtigten jetzt die Notbremse ziehen, ist das klüger»; 05.02.2017; Ausgabe-Nr. 56