Was unterscheidet ein freikirchliches Zeltlager von einem Schwimmkurs für Musliminnen? Gerhard Pfister und Balthasar Glättli streiten über Werte.
Balthasar Glättli: Geschätzter Kollege, einige Jungscharen von Freikirchen und andere christlich fundamentalistisch geprägte Jugendorganisationen wurden von Geldern aus dem Sportförderungsprogramm Jugend+Sport (J+S) des Bundes ausgeschlossen. Ist das religiöse Zensur – oder vielmehr sehr gerechtfertigt, weil wir ja umgekehrt auch keine Jugendlager subventionieren möchten, bei denen islamistisches Gedankengut vermittelt würde?
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, dieses Ende der Unterstützung von christlichen Jugendorganisationen ist unüberlegt und hoch problematisch. Es kann nicht angehen, dass die Sportförderung eingestellt wird, weil jemandem in der Bundesverwaltung die eine oder andere Gesinnung der Organisatoren nicht passt. Ihre Frage insinuiert eine Gleichsetzung von islamistischem Gedankengut mit christlich geprägten Ideen, das ist gelinde gesagt eine beleidigende Unterstellung.
Balthasar Glättli: Die Frage ist in zwei Teilen zu stellen: Müssen vom J+S finanziell unterstützte Aktivitäten religiös neutral sein oder nicht? Falls die Antwort Nein ist: Gibt es dann doch eine Grenze, wo das Religiöse ins Fundamentalistische abgleitet? Ich finde diese Entscheidung nicht so einfach, wie sie für Sie offenbar ist. Persönlich bin ich gegen ein religiöses Neutralitätsgebot. Gleichzeitig finde ich aber auch, es muss gewisse Grenzen geben… Diese Grenze aber ganz konkret ziehen zu müssen, ist eine schwierige Aufgabe.
Gerhard Pfister: Nun mal halblang. Die Bundesverwaltung hat überbissen. Es geht bei J+S um Sportförderung, um die Förderung von Ferienlagern, bei denen eine wichtige grösstenteils ehrenamtliche Tätigkeit zugunsten der Jugend ausgeübt wird. Die Grenzen sind glasklar: Da, wo es gegen den Rechtsstaat geht, egal aus welchen Motiven, da hat der Staat einzugreifen. Aber er soll nicht einfach Beiträge streichen, ohne die betroffenen Organisationen auch nur anzuhören. Beziehungsweise ohne klarzumachen, warum die eine christliche Organisation unterstützungswürdig ist und der andere christliche Jugendverein nicht. Ich gehe davon aus, dass die zuständigen Beamten kaum die nötige Kompetenz haben, das zu beurteilen.
Balthasar Glättli: Vermutlich hat der Amtsschimmel tatsächlich überbissen… da stimme ich Ihnen sogar zu, auch wenn mich gewisse Freidenker-Kolleginnen und -Kollegen dafür nun kreuzigen werden. Das Recht auf Anhörung zu verweigern und keine klaren Richtlinien vorzulegen, das geht nicht. Allerdings ist für mich umgekehrt klar: Es braucht solche Richtlinien, und es braucht auch irgendeine Grenze. Und zwar nicht einfach nach dem Motto «Christlich Ja – andere Religionen Nein»! Übrigens kenne ich aus meiner Jugendzeit im Zürcher Oberland durchaus christlich fundamentalistische Gruppen, bei denen ich nicht möchte, dass sie durch Geld aus Bundesbern unterstützt würden…
Gerhard Pfister: Ob Sie das wollen oder nicht, ist völlig unerheblich. Denn was Sie hier betreiben, ist Gesinnungspolitik. Die Grenze ist nicht Ihr Wollen oder meines, sondern der Rechtsstaat. Sollten Gruppierungen Ideen vertreten, die gegen den Rechtsstaat gerichtet sind, gehören sie nicht unterstützt, beziehungsweise sogar verboten. Sofern solche Gruppierungen ein ungenügendes Sportangebot leisten, ist zu überprüfen, ob Jugend und Sport sie weiterhin unterstützen kann. Die Begründung der Behörden, diese Organisationen würden Sport «lediglich als Mittel zur Erreichung anderer (namentlich religiöser) Zwecke einsetzen», ist abenteuerlich. In dieser Logik dürfte man nur noch Sportvereine unterstützen, nicht aber einen Verein, der auch noch Sport macht.
Balthasar Glättli: Ihre liberale Haltung erstaunt mich – hat aber durchaus etwas für sich. Das würde bedeuten, dass Sie auch nichts gegen die Unterstützung von Schwimmkursen für Mädchen eines islamischen Vereins hätten, in denen Burkinis getragen werden. Wie immer in diesen Fragen steht die französische Auffassung eines strikten staatlich durchgesetzten Laizismus der traditionell schweizerischen Haltung gegenüber, die Religionsfreiheit auch im öffentlichen Raum sehr weit zu fassen – und die Grenze einzig bei der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu setzen. Ich unterstütze die zweite Haltung.
Manche Ihrer öffentlichen Äusserungen in letzter Zeit, etwa dass wir das christlich-abendländische Erbe ernster nehmen und stärken müssten, habe ich aber im Sinne einer dritten Haltung verstanden: dass nämlich eine Bevorzugung christlicher Haltungen angestrebt werden muss, während öffentlichen Äusserungen anderer Glaubensgemeinschaften restriktiver begegnet werden muss. Dies wäre dann gar nicht in meinem Sinn. Aber vielleicht habe ich Sie missverstanden?
Gerhard Pfister: Ja, Sie haben mich missverstanden. Gerade wenn wir das christlich-abendländische Erbe ernster nehmen, nehmen wir den Vorrang des Rechtsstaats ernster. Das Konzept des Rechtsstaats ist aus der christlichen Kultur hervorgegangen, indem die Ansprüche der Religion eingerahmt wurden durch den Rechtsstaat. Der Rechtsstaat wiederum gründet auf Voraussetzungen, die er nicht selbst geschaffen hat: der abendländischen Kultur. Der Islam ist hingegen nicht ausschliesslich (private) Religion, sondern auch Staatsphilosophie. Darin besteht der Widerspruch und das Konfliktpotenzial gegenüber einem Rechtsstaat westlicher Prägung. Und genau darin besteht auch der Grund, warum unsere Gesellschaft auf die Einhaltung bestimmter Regeln für alle bestehen sollte, zum Beispiel beim Schwimmunterricht.
© NZZ am Sonntag; «Die Bundesverwaltung hat überbissen. Es geht bei J+S um Sportförderung»; 30.04.2017